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Susanne Lettow im Club Voltaire München, 16.12.02

Gerechtigkeit, Gleichheit, Herrschaftskritik
Eine frühere Version dieses Textes ist in der Zeitschrift "Widerspruch", Zürich, 1/2002 erschienen

Der Boom des Anti-Egalitarismus
Soziale Entkontextualisierung
Leistung und Natur
Kritik des Anti-Egalitarismus
Literatur

"Gerechtigkeit" ist ein zentraler Begriff für soziale, herrschaftskritische Bewegungen, die damit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, globaler Gerechtigkeit in den Nord/Süd-Verhältnissen Ausdruck verleihen.
"Gerechtigkeit" ist zugleich als ideologischer Begriff ein Deckwort für Herrschaftsinteressen. "Gerechtigkeit" ist somit ein umkämpfter Begriff, der für unterschiedlichste, ja antagonistische politische Projekte in Anspruch genommen wird. Im Folgenden werde ich dies anhand der gegenwärtigen sozialphilosophischen Debatte, in die der Neoliberalismus Eingang gefunden hat, darstellen.

Der Boom des Anti-Egalitarismus

"Verdienen Behinderte oder Häßliche oder Unbegabte oder Unausstehliche wirklich Kompensationszahlungen, damit sie nicht schlechter dastehen im Leben als Gesunde, Hübsche, Talentierte oder Nette? (...) Verkehrt sich ... in dem Gleichheitskonzept von Gerechtigkeit die Tugend der Gerechtigkeit nicht in die Untugend des Neids?".

Mit Fragen wie dieser hat sich in jüngster Zeit in der angelsächsischen und deutschsprachigen Sozialphilosophie eine Position herausgebildet, die sich "Anti-Egalitarismus" nennt. Gemeinsam ist den ProtagonistInnen dieser Position, unter denen vor allem Angelika Krebs, Harry Frankfurt und Wolfgang Kersting zu nennen sind, die Entkoppelung des Begriffs der Gerechtigkeit von dem der Gleichheit. Im Kern geht es in der Debatte um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Unter Begründungszwang, heißt es, stünden nicht diejenigen, die ungleich verteilen wollten, sondern diejenigen, die gleich verteilen wollten. Eine schlüssige philosophische Begründung für Letzteres sei nie geliefert worden. Harry Frankfurt geht sogar soweit, über ungleiche ökonomische Verteilung hinaus das Prinzip der proportionalen Gerechtigkeit nach dem Motto "Jedem das Seine" auf "Rechte, Achtung, Rücksicht und Anteilnahme" auszudehnen. "Jeder Person", so Frankfurt, "sollten die Rechte, die Achtung, die Rücksicht und die Anteilnahme zukommen, auf die sie kraft dessen, was sie ist und was sie geleistet hat, Anspruch erheben kann". Selbst das Recht gilt hier nicht mehr für alle gleich, sondern richtet sich nach der jeweiligen Leistung. In ähnlicher Weise wie Frankfurt fordert Wolfgang Kersting unter Berufung auf den Begründer des Neoliberalismus Friedrich August von Hayek einen "verdienstethischen Naturalismus". Dabei gilt ihm die "Naturausstattung der Individuen, ihre Begabungen, Talente und Fähigkeiten",als "Grundlage für den Erwerb legitimer Verdienstansprüche". Die Naturalisierung des gesellschaftlichen Kompetenz-/Inkompetenzgefüges geht zusammen mit dem Aufruf ans Individuum, die eigenen "Anlagen, Kapazitäten und Potentiale zu optimieren und sich so selbst zu erweitern". Nur so gelinge es, im Konkurrenzkampf um "eine begrenzte Anzahl von begehrten und gesellschaftlich angesehenen Positionen" zu bestehen. Gesellschaftliche Vorraussetzung für diesen "Liberalismus sans phrase" ist, wie Kersting schreibt, der "Übergang von dem Minimalstaat zum einem Minimalsozialstaat".

Unschwer ist zu erkennen, dass es sich bei diesen anti-egalitaristischen Positionen um einen neoliberalen Vorstoß in der Philosophie handelt. In die Kritik geraten, parallel zum politischen Feld, keynesianisch orientierte Umverteilungskonzeptionen. Die meistdikutierten Gegner der Anti-Egalitaristen sind Ronald Dworkin und der kürzlich verstorbene John Rawls, der sich z.B. mit Keynes für den "Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und größerer Nutzensumme" ausspricht .

Für den politischen Diskurs, insbesondere den in der Sozialdemokratie dominierenden, hat Birgit Mahnkopf aufgezeigt, wie in den neuen Gerechtigkeitsbegriff neoliberale Imperative Eingang finden und die verstärkten sozialen Spaltungen und Ungleichheiten hegemoniefähig gemacht werden. "Exemplarisch lässt sich dies an dem vielstimmigen Plädoyer für einen ‚zeitgemäßen Gerechtigkeitsbegriff‘ zeigen, mit dem im Frühjahr 2000 die öffentliche Debatte über ein neues Grundsatzprogramm der SPD eröffnet wurde". Mahnkopf spricht in diesem Zusammenhang von einem Prozess "mentaler Kolonialisierung", in dem "die aus neoliberalen Textbüchern vertraute Formel von der Ungleichheit stiftenden und Ungleichheit fördernden Funktion der Märkte als Triebfeder ökonomischen Wachstums und gesellschaftlicher Wohlstandsproduktion" übernommen wird (499). "Gerechtigkeit soll nicht länger mit einer Reduzierung von Ungleichheit identifiziert werden; ‚begrenzte Ungleichheiten‘ sollen künftig ein Mehr an Gerechtigkeit herbeiführen". In diesem Sinne plädierte z.B. Wolfgang Clement im "Forum Grundwerte" der SPD dafür, Ungleichheiten als "Katalysator (..) für individuelle (und) (...) auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten" zu betrachten (499). Diese Aufnahme neoliberaler Positionen ist freilich nicht auf die Sozialdemokratie beschränkt. So kritisierte bspw. auch Antje Vollmer Ende der 90er Jahre das "Experiment der Egalität", das in der Bundesrepublik "bis zum Äußersten getrieben" worden sei (Heimann 2001). Jenseits des politischen Diskurses kann die "Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit", wie Mahnkopf formuliert, aber auch als Motto des philosophischen Anti-Egalitarismus gelten.

Ich gehe im Folgenden nun zunächst auf einige zentrale Theoreme des Anti-Egalitarismus wie "Natur" und "Leistung" ein und skizziere die egalitaristischen Antworten. Hierbei beziehe ich mich auf die rawlsianische Position von Herlinde Pauer-Studer sowie auf den Fähigkeiten-Ansatz, wie er von Martha Nussbaum und Amartya Sen vertreten. Ich befrage diese Konzeptionen danach, inwieweit sie dem Anti-Egalitarismus nicht nur ein abstraktes Beharren auf dem Wert der Gleichheit entgegensetzen, sondern in die gesellschaftspolitischen Kämpfe auf dem Terrain der Philosophie eingreifen. Dabei zeigt sich, dass wertphilosophische Kritik des Anti-Egalitarismus an eine Grenze stößt. Indem die Auseinandersetzung um Gerechtigkeit als Problem einer Ordnung der Werte verhandelt wird - so ist ein zentraler Streitpunkt die Frage, ob "Gleichheit" ein intrinsischer Wert oder nur ein abgeleiteter Wert ist - gerät die gesellschaftliche und politische Problematik aus dem Blickfeld. Die Ausblendung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit hervorbringen, aber ist eine zentrale diskursive Operation des philosophischen Anti-Egalitarismus und muss ins Zentrum der Kritik rücken, soll diese sich nicht auf eine hilfloses Beschwören "besserer Werte" reduzieren. Ich plädiere daher dafür, die Fragestellung umzuformulieren: In welchen Verhältnissen und Praxen werden gesellschaftliche Ungleichheiten hergestellt und wie kann in diese Prozesse verändernd eingegriffen werden? Ins Blickfeld rücken damit die Prozesse, in denen hierarchischen Geschlechterverhältnissen, Klassenverhältnissen sowie kulturell/ethnisch artikulierten Hierarchien reproduziert werden. Die Bedeutung der Gegensatzpaare Gleichheit/Ungleichheit sowie Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit aber kann nur im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Projekte verstanden werden. Sie haben keine Bedeutung, die von der Einbindung in ein solches Projekt unabhängig wäre. Ihre Bedeutung ist vielmehr umkämpft, sie unterliegen stets einer "antagonistischen Reklamation".

Soziale Entkontextualisierung

Eine Wendung, die für den Anti-Egalitarismus z.T. aber auch für egalitäre Positionen charakteristisch ist, besteht darin, "Gleichheit" und "Gerechtigkeit" aus jeglichem gesellschaftlichen und politischen Kontext zu lösen. So führt Angelika Krebs den Unterschied von relationalen und nichtrelationalen Gerechtigkeitsauffassungen über das Beispiel der Gewichtsmessung von Mehl, Zucker und Butter beim Kuchenbacken ein. Um sich jeweils des absoluten Gewichts der Zutaten zu versichern, ist eine "nicht-komparative Waage, wie die digitale Küchenwaage" weitaus besser geeignet als eine "komparative Waage, die Balkenwaage orientalischer Märkte zum Beispiel". Dieser Unterschied, der nebenbei mit dem Gegensatz von europäischer High-Tech und orientalischer Rückständigkeit aufgeladen wird, dient ihr als Vorlage für die Konstruktion zweier gegensätzlicher "Gerechtigkeitsstandards". Die "egalitaristische Gerechtigkeitstheorie", so Krebs, bestimmt "das einem jeden gerechtermaßen Zustehende wesentlich relational oder komparativ, mit Blick auf andere, und nicht absolut, unabhängig von anderen". Dies aber, zu "suggerieren, Gerechtigkeit sei prinzipiell etwas Relationales, etwas, das mit der Behandlung der einen Person im Verhältnis zu anderen Personen zu tun hat", ist für Krebs "irreführend". "Gerechtigkeit" und "Gleichheit" werden hier aus allen gesellschaftlichen Verhältnissen herausgelöst und diese Abstraktion eröffnet einen gewissen politisch-theoretischen Freiraum für ein neues Gerechtigkeitskonzept, dem die Affirmation gesellschaftlicher Hierarchien inhärent ist. Krebs fordert eine Rückbesinnung auf die Formel "Jedem das Seine". "Gerecht ist danach eine Handlung, die jedem das gibt, was ihm zukommt", heißt es. Die Forderung nach Gleichheit, die trotz der sozialistischen und feministischen Kritik an ihrem nur formalen Charakter immer auch einen sozialrevolutionären und emanzipatorischen Impetus hat, wird sodann ins Absurde gezogen. "Gleichheit unter den Menschen lässt sich schließlich auch dadurch schaffen, dass man einfach alle umbringt". Nachdem Krebs am Gerechtigkeitsbegriff alle gesellschaftlichen und politischen Bedeutungen abgespalten und damit auch jedes Elements von Herrschaftskritik, reformuliert sie "Gerechtigkeit". Einerseits gibt es ihr zufolge eine "allgemeine Gerechtigkeit", die in einem "Sockel-Bereich" gilt und auf die Befriedigung allgemein-menschlicher Grundbedürfnisse wie der nach Nahrung und Obdach zielt, und andererseits als "besondere Gerechtigkeit" im "Surplus-Breich". Eine solche Gerechtigkeitsauffassung aber ist mit einer Sklavenhaltergesellschaft oder einer feudalen Ordnung, in der die Arbeitskraft der Individuen auf minimalem Niveau reproduziert wird, ebenso vereinbar wie mit Wolfgang Kerstings "Minimalsozialstaat". Von diesem heißt es, dass das Verteilungsvolumen "bei weitem das Sozialbudget unterschreiten (soll), das etwa die bundesrepublikanische sozialstaatliche Wirklichkeit zur ungeschmälerten Selbsterhaltung und Zufriedenstellung der etablierten Verteilungslobby benötigt". Krebs hat, nach ferundlicheren Worten suchend, ihre Position auch als "feministischen Humanismus" bezeichnet, der - contradictio in adjecto - aber keinesfalls "die Schaffung gleicher Lebensaussichten für Frauen und Männer zu seinem Ziel erhebt" (2001). In ihrem neuen Buch "Arbeit und Liebe", in dem Krebs unter Einbezug bevölkerungspolitischer Kosten/Nutzen-Kalküle für eine Entlohnung von Familienarbeit plädiert und über weite Strecken ihre zentralen Gedanken zur Gerechtigkeit wiederholt, tritt der Vorwurf der Inhumanität, gar der "Verstöße gegen die Menschenwürde" (134), mit dem Krebs den Egalitarismus belegt, mit neuer Vehemenz auf. Da der Egalitarismus Verteilungsmechanismen thematisiert, behauptet Krebs, er leiste der "Verelendung" Vorschub, indem "Menschen, die an ihrem Elend selbst schuld sind, ... allein gelassen werden" (124). Zudem würden z.B. Behinderte "aus falschen, relationalen Gründen unterstützt" und somit durch "herablassendes Mitleid" stigmatisiert (ebd.); staatliche Bürokratien, in denen über Sozialleistungen entschieden wird, entmündigten die Betroffenen (126f.).

Das Hauptproblem sozialer Gerechtigkeit besteht für Krebs in diesem Buch in der "Trittbrettfahrerei der Singles und Dinks (‘double income, no kids’/SL)" (69). Diesen stehe "der Doppelcharakter ihrer Verpflichtung" — nämlich nicht nur Sozialversicherungsbeiträge zu leisten, sondern sich auch fortzupflanzen - "nicht mehr vor Augen" (61). Nach dem "Modell des Militär- und Zivildienstes" erwägt Krebs gar einen "pädagogisch motivierten Sozialdienst für junge Menschen" in der Familienarbeit (65).

Leistung und Natur

Für die anti-egalitaristischen Gerechtigkeitsauffassungen ist "Leistung" ein wichtiger Bezugspunkt. Dies erscheint zunächst erstaunlich vor dem Hintergrund der "Erosion der Leistungsgerechtigkeit", wie sie Birgit Mahnkopf beobachtet. In der Vergangenheit, so Mahnkopf, galten als "leistungsgerecht solche Standards, die sich auf eine meßbare Arbeitsleistung und auf erworbene Qualifikationen bezogen". Mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust formaler Qualifikationen und der quantitativen Arbeitszeit als "Maß der Leistungsgerechtigkeit", zerreißt der "Zusammenhang von Leistung und Belohnung". "Vor allem in der ‚new economy‘ sind Geschick, Originalität und die Schnelligkeit, mit der Probleme identifiziert und gelöst werden, mit Erfolgsprämien belegt; die Bewältigung von Standardabläufen hingegen, egal wie anstrengend, belastend oder anspruchsvoll diese auch sein mögen, unterliegen einem Entwertungsprozess. (...) Nach den Spielregeln des ‚Rattenrennens‘ werden nicht nur die Unbeweglichen, Leistungsschwachen und Langsamen zu Verlierern, sondern auch viele von denen, die lange Zeit mit einigem Erfolg versucht haben, die (Maßstäbe/SL) des Weltmarktes zu erfüllen. Denn irgendwo auf der Welt waren andere, von der ‚neuen Ökonomie der Zeit‘ gehetzte Menschen noch flexibler, besser und schneller als sie. So gesehen verbürgt gerade die Erbringung von quantifizierbaren Leistungen im Gegensatz zu früher keine längerfristigen Sicherheiten mehr, weder im Hinblick auf Karriereverläufe noch hinsichtlich der individuellen Lebensplanung". Die Bedeutung, die "Leistung" im "verdienstethischen Naturalismus" Wolfgang Kerstings hat, besteht denn auch nicht im Plädoyer für einen verlässlichen Zusammenhang zwischen Leistung und Belohnung, sondern vielmehr in der Anrufung einer generalisierten Leistungs- und Risikobereitschaft. Es geht darum, dass die Individuen je einzeln die "Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung, zur Selbstbeanspruchung und zum Umgang mit Lebensrisiken" zu kultivieren. Diese Bereitschaft zur Selbstoptimierung artikuliert Kersting als "grundlegendes Feiheitsrecht", das der Egalitarismus missachte, nämlich das "Recht, seine Talente und Fähigkeiten zu entwickeln, sich vervollkommnen zu dürfen" (ebd., 372). Sein Vorwurf an egalitäre Positionen lautet, sie seien ein "in die Natur eingreifender Hyperegalitarismus". Der Verweis auf "Natur" wird hier zur Begründung sozialer Ungleichheit — eine ideologische Strategie, die der Sozialdarwinismus im 19.und 20. Jahrhundert prominent gemacht hat, die aber nicht auf ihn beschränkt ist. Die Naturalisierung von Sozialem leistet bei Kersting wie bei Krebs die Ausblendung von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Sie verschwinden in der Figur des "von Natur aus Talentierteren", dessen Gegenbild die Untalentierten sind. Übergangen werden hierbei alle Theorien, die eine Kritik an der Naturalisierung von Sozialem, der Geschlechtszugehörigkeit und erst recht der Klassenzugehörigkeit geleistet haben. So belegt z.B. Pierre Bourdieu, wie sich "Begabung" als "frühzeitiges Eindringen in ein und Vertrautwerden mit einem ‚Spiel‘, als sozial ausgebildeter ‚Spiel-Sinn‘" konstituiert, der "den Klassenrassismus zur Natur erhebt, zu von der Natur ungleich verteilten und dadurch legitimierten natürlichen Eigenschaften". In der neueren feministischen Theorie ist selbst die Konzeption des biologischen Geschlechts und der biologischen Zweigeschlechtlichkeit als eine historisch-spezifische Denkform aufgezeigt worden, nachdem schon lange die Zuweisung bestimmter Aufgaben und Kompetenzen an die Geschlechter im Namen der "Natur" kritisiert worden war.

Kersting bezeichnet seine Perspektive als "politische Solidarität", die am sogenannten Suffizienz-Prinzip ausgerichtet ist, das Harry Frankfurt prägnant formuliert hat: "Weniger zu besitzen ist schließlich vereinbar mit dem Besitz einer ganzen Menge, und schlechter abzuschneiden als andere impliziert nicht, schlecht abzuschneiden. (...) Es besteht keine notwendige Verbindung zwischen dem Leben am unteren Rand der Gesellschaft und Armut in dem Sinne, in dem Armut ein ernsthaftes und moralisch unannehmbares Hindernis zu einem guten Leben ist". Wichtig ist für Kersting vor allem, dass der Staat, die Individuen "marktbereit" hält. Sofern es für dieses Ziel erforderlich ist, ist durchaus an die "Bereitstellung der für die Aufrechterhaltung einer anständigen, bürgerlichen und sozial integrierten Existenz notwendigen und hinreichenden Güter" gedacht. Birgit Mahnkopf hat diese minimale, ihre Grenzen an den Imperativen des Marktes findende Armutseindämmung als "Abschied von der Bedarfsgerechtigkeit" bezeichnet: "Nur soweit Ungleichheit eine Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung und vor allem für die ökonomische und technologische Entwicklung der Gesellschaft darstellt", fasst sie zusammen, "muss Politik auf ihren Abbau abzielen. Indem das Konzept der Gleichheit durch das der ‚Inklusion‘ ersetzt wird ..., verengt sich der Sinn von Gleichheit auf ... soziale Nützlichkeit: Die ‚Teilhabe‘ an Bildung und Arbeit (heißt es/SL) befördert die Integration der Gesellschaft und zugleich die wirtschaftliche und technische Entwicklung. ‚Nicht-Teilhabe‘ an (oder ‚Exklusion‘ aus) den Strukturen der Arbeitsgesellschaft gilt hingegen als eine Störung, die durch ‚modernes Regieren‘ beseitigt werden kann" (510).

Kritik des Anti-Egalitarismus

Welche Antworten werden auf die oben skizzierten neoliberalen Konzeptionen in der Philosophie gegeben? Die dominanten Positionen sind hier zum einen dem Liberalismus verpflichtete Verteidigungen des Gleichheitsbegriffs, zum anderen wird oft auf den Fähigkeiten-Ansatz von Martha Nussbaum und Amartya Sen Bezug genommen.

Herlinde Pauer-Studer knüpft in ihrer Kritik des Anti-Egalitarismus an die Behauptung, Gleichheit sei kein inhärenter und unabgeleiteter moralischer Wert an, indem sie die Werte "Freiheit" und "Autonomie" dem Wert der Gleichheit überordnet. "Distributive Gleichheit", so Pauer-Studer, "ist ein Mittel, um Freiheit herzustellen" und private Autonomie zu sichern. "Ohne Chancengleichheit verfügen Menschen nicht über die Freiheit, ein selbstgewähltes Leben zu führen, weil ihnen die Optionen durch moralisch irrelevante Faktoren wie Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit und sexuelle Orientierung verbaut sein können". Dieser Freiheitsbegriff ist dem von Kersting entgegengesetzt. Gegen Kersting, Frankfurt und Krebs hält Pauer-Studer zudem das Suffizienz-Prinzips für einen "zu niedrig angesetzten Standard. Moralisch gesehen scheint es schwerlich vertretbar", heißt es, "Menschen zwar das Recht zuzusprechen, nicht verhungern zu müssen und eine Unterkunft zu haben, aber für Güterzuteilungen oberhalb dieser Grenze nicht offen zu sein, wenn eine Gesellschaft sich weitergehende Verbesserungen leisten kann". Pauer-Studer konstruiert ihre Position als eine Ordnung der Werte: Es gibt drei wichtige Werte: "universelle Achtung" als intrinsischer Wert von übergeordnetem Status, "Freiheit" als Wert an sich und "Gleichheit" als instrumenteller Wert. Diese Unterscheidungen werden wie folgt erklärt: Ein intrinsischer Wert ist ein Wert an sich, der auch seinen Ursprung in sich selbst hat, d.h. nicht weiter gerechtfertigt werden muss. Extrinsische Werte hingegen haben ihren Ursprung in etwas anderem, wie Freiheit und Gleichheit in der universalen Achtung. Ein instrumenteller Wert wie Gleichheit hat seinen Wert nur als Mittel zum Zweck. Egalitaristen, die Gleichheit für einen intrinsichen Wert halten, hält Pauer-Studer entgegen, dass sie doch mit Gleichheit zumeist universelle Achtung meinten. In diesem Universum der Werte hat so zwar alles seine Ordnung, insofern der Wert der Gleichheit gerettet wird, doch nimmt es sich hilflos gegenüber der schieren Gegenbehauptung einer anderen Werteordnung und der Macht des damit verbundenen gesellschaftspolitischen Projekts aus. Aus einer Perspektive, die dies nicht problematisiert sondern bejaht, spricht Anthony Giddens aus, was der Hintergrund der Konjunktur von Wertediskursen ist: das Fehlen eines gesellschaftlichen Projekts, bzw. einer Veränderungsperspektive: "Mangels eines Befreiungsmodells", so Giddens, "wird die Selbstbeschreibung als ‚links‘ tatsächlich in erster Linie zu einer Frage der Werte" (Giddens 2001, 47f).

Gegenüber einem solche Rückzug ins Reich der Werte ist der Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum stärker auf die Praxis und die Bedürfnisse der Individuen orientiert. "Was letztlich im Vordergrund stehen muss", so Sen, "ist das Leben, das wir führen: das, was wir tun oder nicht tun können, das was wir sein oder nicht sein können". Im Gegensatz zu Krebs´ "absolutem Gerechtigkeitsstandard" und zum Suffizienz-Prinzip bestimmt Sen die für die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten notwendigen Güter aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang. "Um ein Leben ohne Scham zu führen, um fähig zu sein, Freunde zu besuchen und zu bewirten, um an dem teilhaben zu können, was in verschiedenen Bereichen geboten wird und worüber die anderen reden, bedarf es in einer Gesellschaft, die generell reicher ist und in der die meisten Menschen etwa über Autos, eine große Auswahl an Kleidung, Radios, Fernsehgeräte usw. verfügen, kostspieligerer Güter und Dienstleistungen. Somit erfordern einige (für einen ‚Mindest‘-Lebensstandard relevante) Fähigkeiten in einer reicheren Gesellschaft mehr Realeinkommen und Wohlstand in Form von Güterbesitz als in ärmeren". Ebenso verschiebt sich die Einschätzung, welche Fähigkeiten grundlegend sind, innerhalb einer Gesellschaft, wenn diese insgesamt reicher wird. "Freiheit" ist hier nicht ein abstrakter oberster Wert, sondern bestimmt durch die "realen Chancen ... (die) ein Mensch (hat), das Leben zu führen, das er führen möchte".

Eine Leerstelle sind jedoch auch in dieser Konzeption wie in allen vorangehenden die gesellschaftlichen, praktisch-tätigen Individuen, die ihre Bedürfnisse selbst artikulieren. Es handelt es um Konzeptionen von "oben", die auf unterschiedliche Art und Weise festlegen, was Menschen zusteht und was nicht. Deutlich wird dies besonders an Matha Nussbaums "aristotelischem Sozialdemokratismus". Der theoretische Bezugspunkt ist hier Aristoteles´ Begriff des guten Lebens. Um das gute Leben zu bestimmen, legt Nussbaum eine Liste grundlegender Bedürfnisse und Fähigkeiten an. Sie soll Antwort geben auf die Frage, was zu einem Leben gehört, "das uns als ein menschliches Leben gilt". Zweifelsohne soll Nussbaums Konzeption "der Gleichheit und der Gerechtigkeit" dienen, doch hat ihre Bestimmung des ‚guten Lebens‘ eine ausgrenzende Kehrseite: "Welches Leben", so stellt Nussbaum ihre Frage um, "ist so verarmt, dass es nicht zu Recht ein menschliches Leben genannt werden kann?". Alte, Behinderte und verwahrloste Kinder und Jugendliche tauchen hier auf. Von "bestimmten schwerstbehinderten Kinder" heißt es, sie seien "keine menschlichen Wesen ..., auch wenn sie von menschlichen Eltern abstammen". "Die seltenen Fälle von Kindern, die außerhalb der menschlichen Gesellschaft oder in einem zutiefst gestörten Zuhause aufgewachsen sind, sodaß es ihnen völlig an Sprach- und Denkvermögen fehlt oder ihre sozialen Fähigkeiten auf eine extreme und irreparable Weise unterentwickelt sind" bilden für sie eine "umstrittene Gruppe". Dieses Beispiel zeigt, wie auch eine Konzeption, die Gerechtigkeit als soziale Gleichheit begreift, in einen Herrschaftsdiskurs umschlagen kann. Das Problem liegt im klassifikatorischen Zugang, der die Stelle besetzt hält, an die gesellschaftstheoretisch wie politisch die sozialen Bewegungen und Individuen, die ihre jeweiligen Bedürfnisse und Erfahrungen von Ungerechtigkeit artikulieren, treten müssten. Auffallend ist, dass in allen vorgestelleten Konzeptionen der "Kampf um die Bedürfnisse" (Fraser 1994), um ihre Definition und die Art und Weise ihrer Befriedigung, der eine zentrale Dimension der nach 68er sozialen Bewegungen war und einen Bruch mit Paternalismus und Stellvertreter-Politiken einschloss, aus dem politischen Gedächtnis und theoretischen Horizont verschwunden sind.

Einen Vorschlag, der sich davon abhebt, hat die feministische Theoretikerin Nancy Fraser gemacht. Sie entwickelt gegen paternalistische Sozialpolitik auf der einen und gegen exklusive Identitätspolitiken auf der anderen Seite eine Perspektive, die, wie sie schreibt, "die sozioökonomische Politik eines sozialistischen Feminismus mit der kulturalistischen Politik eines dekonstruktiven Feminismus" verbindet. Dies zielt zum einen auf eine "transformative Umverteilung", die dahin tendiert, die "Klassendifferenzierung zu untergraben" und die Orientierung auf ein "Umstrukturierung der Produktionsverhältnisse" einschließt, statt die sog. "Habenichtse" auf Konditionen festzulegen, die sie zur Unterordnung verurteilen. Darüber hinaus wirkt die Dekonstruktion einer Verfestigung der Geschlechter-Differenz entgegen, "wie sie in einer geschlechtsspezifisch ungerecht organisierten politischen Ökonomie auftritt". Mit der Formel "Anerkennung und Umverteilung" fügt Fraser die kulturellen und sozioökonomischen Dimensionen sozialistischer Politik zwar rein additiv zusammen. Deutlich wird bei ihr jedoch, dass Gerechtigkeit Fragen von Gesellschaftsveränderung aufwirft. Nicht ob der Begriff der Gerechtigkeit mit dem der Gleichheit verknüpft werden kann und soll, sondern inwieweit Gerechtigkeit mit Forderungen und Vorschlägen zum Abbau der Herrschaft von Menschen über Menschen artikuliert ist rückt somit ins Zentrum der Auseinandersetzung. Beides, "Gerechtigkeit" und "Gleichheit" sind Begriffe der politischen und der philosophischen Sprache, deren konkrete Bedeutung in der Kritik ihres Gegenteils, der Kritik an den vielfältigen, historisch-spezifischen Formen von Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit immer wieder neu erfunden werden muss. Dies ist jedoch keine Aufgabe, die in der philosophischen Form bewältigt werden kann, sondern eine Frage eingreifenden Denkens, das mit emanzipatorischen sozialen Bewegungen verbunden ist.

Literatur
Frankfurt, Harry, 2000: Gleichheit und Achtung. In: Angelika Krebs (Hg.), 2000: A.a.O
Fraser, Nancy, 2001: Die halbierte Gerechtigkeit. Frankfurt/M.
Giddens, Anthony, 2001: Die Frage der sozialen Ungleichheit. Frankfurt/M

Heimann, Horst, 2001: Mehr Ungleichheit wagen? Zum Boom der Egalitarismuskritik. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6, Bonn
Kersting, Wolfgang, 2000: Theorien der sozialen Gerechtigkeit. Stuttgart
Krebs, Angelika, 1999: Würde statt Gleichheit. Zu Avishai Margalits ‚Politik der Würde‘. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 2. Berlin
Dies., (Hg.), 2000: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt/M.
Dies., 2002: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Warum der Feminismus nicht auf Gleichheit setzen sollte., in: Christensen, Birgit (Hg.): Wissen Macht Geschlecht. Philosophie und die Zukunft der ‚Condition Féminine‘, Zürich
Mahnkopf, Birgit, 2000: Die Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit. In: Prokla, Heft 121. Münster
Nussbaum, Martha, 1999: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt/M.

Pauer-Studer, Herlinde, 2000: Autonom leben. Frankfurt/M.

Dies, 2002, in: Christensen, Birgit (Hg.): Wissen Macht Geschlecht. Philosophie und die Zukunft der ‚Condition Féminine‘, Zürich 2002
 
 

   
 
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