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Mit Unterstützung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Stadtverband München und des Kurt-Eisner-Vereins für Politische Bildung in Bayern e.V.
Frieder Otto Wolf
Radikale Philosophie in Zeiten des Krieges
Vom Autor überarbeitete Fassung eines Vortrages im DGB Haus München am 10.10.2002.

 

Inhalt:
Der Angriff von Innen
Aufklärung und Befreiung
Philosophien der Gewalt
Erkenntnis und Veränderung
Dekonstruktion
Das Palaver der Menschheit
Krieg als Alltag
Diskussion

FriederOttoWolfIch danke Ihnen für die Einladung und dafür, dass Sie gekommen sind. Ich will versuchen, mein Thema unter dem Gesichtspunkt zu diskutieren: Warum eigentlich Radikale Philosophie heute, was ist daran spezifisch?

Der Untertitel meines Buches lautet: Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit. Meine These ist also, dass sich irgendetwas Wichtiges verändert hat. Andererseits - das hat man mir auch vorgeworfen - ist es natürlich ganz konservativ, weiterhin von Aufklärung und Befreiung zu sprechen, als ob dieses völlig unproblematische Begriffe seien. Ich denke diese Begriffe sind weiter notwendig, aber es sind sicherlich Begriffe, über die man sich noch genauer verbreiten muss, weil in der Tat ‚Aufklärung’ im 20ten Jahrhundert vor allen Dingen zum Teil gleichgesetzt worden ist mit der Ausbreitung der Einheitswissenschaft, der Schließung der letzten dunklen Flecken in unserem Weltbild, dem Abschluss der wissenschaftlichen Forschung. Das war verbunden mit der Hoffung, dann würden sich alle Probleme erledigen, da es dann für alle Probleme eine technische Lösung gäbe.

Die Entwicklung, die Geschichte des 20ten Jahrhunderts hat ja im großen Maßstab demonstriert, dass die Technik mindestens genauso die Möglichkeiten der Zerstörung geschaffen hat, Verbrechen produziert und produzieren geholfen hat, die in der Menschheitsgeschichte bisher noch nicht so vorgekommen waren. Von daher ist die Vorstellung blamiert, dass Aufklärung so etwas wie ein wissenschaftlicher Spill-over-Effekt wäre - also, wenn lange genug die Wissenschaft vorangetrieben wird, stellt Aufklärung sich ein und dann wird alles gut. Und Befreiung - da ist es vielleicht etwas schwieriger, ein Haar in der Suppe zu finden - aber wir können uns vielleicht erinnern: In Zeitschriften, die in der Nachkriegszeit bei meinen Eltern herumlagen, die hatten eine Buchhandlung und da war noch so einiges im Archiv, stand zu lesen, dass die Nazis ihren Krieg für die Freiheit Deutschlands führten und man konnte in den 60er, 70er und 80er Jahren auch studieren, dass einige nationale Befreiungsbewegungen einen ganz eigentümlichen Weg gegangen sind und in Despotien umgeschlagen sind, die mit entsprechenden Interventionen dann kleptokratische Regimes an die Macht gebracht haben. Auch in neoliberalen Äußerungen gibt es einen befremdlichen Sprachgebrauch, der jede Art von Abschaffung von Regeln als Befreiung von Zwang artikuliert, also implizit von so etwas wie dem ‚Recht des Stärkeren’ ausgeht. Also da gibt es einen gewissen Klarstellungsbedarf.

Der Angriff von Innen   INHALT

Was ich aber in den Vordergrund stellen möchte, ist diese Frage mit der neuen Zeit. Ich will versuchen das etwas zu umspielen, weil ich denke, auch die Frage von Krieg und Frieden stellt sich in der Gegenwart anders als im 19ten und 20ten Jahrhundert. Vielleicht kann ich damit anfangen: Es gibt, denke ich, so etwas wie eine Entgrenzung von Frieden und Krieg. Wenn wir uns anschauen den 11. September letzten Jahres, dann ist da klar, dass im Unterschied zu allen Phantasien über den Angriff der ganz anderen - von H. G. Wells bis zu Star-Trek - dieser Angriff nicht von anderswo und von außen kam, sondern aus dem Zusammenhang, der von den USA mit produzierten Weltzivilisation. Afghanistan in seinem Zustand, wo es den Taliban und Al-Kaida einen sicheren Unterschlupf, bot war eben auch wesentlich Produkt der vergangenen Politik der USA und diejenigen, die die Attentate verübt haben, sind ja nicht etwa aus Afghanistan oder aus dem Sudan oder sonstwo in Somalia an den unsicheren Grenzen dessen, was man vielleicht als Imperium missverstehen könnte, eingesickert, sondern die kamen aus Hamburg, aus verschiedenen Nordamerikanischen Städten, hatten dort, in den USA, Flugausbildungen absolviert. Also die Vorstellung des Krieges über eine klare Grenze, die über außen und innen, über die eigenen und die anderen organisiert ist, ist hier sehr sichtbar ins Rutschen gekommen. Diese Entgrenzung von Krieg und Frieden - denke ich - hat aber nun auch eine weitere Bedeutung, weil ihr liegt eine tiefere Entgrenzung zugrunde. Sie werden sich vielleicht entsinnen oder vielleicht wissen, dass etwa die Theoretiker des klassischen Imperialismus wie Hobson, Hilferding und Lenin, wobei die beiden letzteren analytisch weitgehend von Hobson abhängig waren, oder Rosa Luxemburg, den Imperialismus beschrieben haben als eine Politik der Unterwerfung dessen, was noch außen war. Die weißen Flecken auf dem Globus mussten geschlossen werden und an ihnen wurde vermutet, was Joseph Conrad, der große polnische Autor, der in englischer Sprache geschrieben hat und gewissermaßen das Epos des britischen Empires geschrieben hat in einer auch für das Verständnis der damaligen Situation ganz wichtigen Novelle, als das "Herz der Finsternis" bezeichnet hat. Dieses Andere ist zugleich, wie wir mit christlicher Vorbildung dechiffrieren können, der Ort des Bösen. Und "The Empire of the Evil" war ja auch in verschiedenen Äußerungen von George W. Bush wieder zu hören, der allerdings auch dieses wieder zurückgenommen hat, so wie er auch das Wort von den "Kreuzzügen" wieder zurückgenommen hat. Hier gibt es offenbar etwas Verwirrung: Da wird mit den alten Metaphern, den alten Begriffen versucht, Politik zu machen, auch wenn es vielleicht nicht immer funktioniert. Wenn es aber richtig ist, dass es kein Außen mehr gibt, sondern die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen nicht mehr geographisch sortierbar ist, sondern innerhalb des Herrschaftszusammenhangs verläuft, innerhalb der globalisierten Gesellschaften - ich sage bewusst, globalisierten Gesellschaften im Plural, denn ich gehe nicht davon aus, dass wir einfach eine homogene Weltgesellschaft geworden sind, aber wir sind eine Konfiguration von Gesellschaften geworden, der alle Gesellschaften angehören, sozusagen bis einschließlich der Inuit oder der indigenen Völker im Amazonasgebiet, alle sind in der einen oder anderen Weise einbezogen, wobei ein großer Schub hier historisch schon zusammenhing mit der Schuldenkrise der 80er Jahre, in der viele Länder an der Peripherie enorme Summen geliehen bekommen haben, um sie diese dadurch an diesen Zusammenhang anzuschließen. Wobei gerade ihre Verschuldung, also das scheinbare Scheitern dieses Anschließens sich als noch wirksamerer Hebel erwiesen hat, um sie zum sich Anschließen zu zwingen.

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Zahl derjenigen, die weltweit darauf angewiesen sind ihre Arbeitskraft zu verkaufen, in dieser Periode seit den 70er Jahren, sich um ein knappes Drittel vergrößert hat. Also nicht, wie immer gesagt wird, "die Arbeit verschwindet aus unseren Gesellschaften". Wenn wir den globalisierten Zusammenhang betrachten, dann ist die Einbeziehung und Unterwerfung früher relativ unabhängig Arbeitender in die abhängige Arbeit immer weiter vorangeschritten. Und das denke ich hat ganz wichtige Konsequenzen dafür, wie wir unser Wissen verwalten und unser Wissen produzieren und dieses ist eigentlich der Hintergrund, warum ich mich darangemacht habe, dieses Buch zu schreiben. Wenn wir uns an die Situation des 19ten Jahrhunderts - sozusagen historisch rekonstruiert - erinnern, dann können wir sagen, da gibt es dominant eine relativ neu konstituierte Wissensform in Gestalt der neu positiven Wissenschaften von Gesellschaft und Natur, da spielt etwa die Geographie auch eine wichtige Rolle, das läßt sich gar nicht so sauber in Natur - und Gesellschaftswissenschaften einteilen, die den Zweck haben, einer Arbeitsteilung und systematisch vorgehenden staatlichen Verwaltung fertige Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Die Wissenschaftler erforschen ein Land und die Administration plant dann dessen Eroberung, Besetzung und Ausbeutung. In dem Sinne kann man die französische oder die britische Ethnologie und Ethnographie auch als Vorform und Begleiter dieser frühen imperialistischen Unterwerfung und Durchdringung begreifen. Unterwerfung und Durchdringung aber in einem strengen hierarchisch-vertikalen Sinn. Es gibt das Mutterland als Nationalstaat, in dem Fall Großbritannien oder Frankreich, und die Kolonie als ihnen mit ökonomischem Monopol und Ausschließlichkeitscharakter zu unterwerfendem und anzuschließendem Territorium. Entsprechend gibt es auch unterschiedliche Fassungen dieser Wissenschaft. Also die britische und die französische Wissenschaftstradition sind da deutlich unterschiedlich, wobei ich da jetzt nicht in Details gehen möchte.

Aufklärung und Befreiung    INHALT

Die Haltung, zu sagen, wenn wir alles erforscht haben - und da kann ich an den Gedanken Aufklärung von vorhin wieder anknüpfen - dann sind alle Fragen beantwortet, dann ist es ganz klar, was die beste Lösung eines Problems ist, dann müssen wir uns nur hinsetzen und alle Aspekte richtig beleuchten und durchrechnen und dann liegt der "one best way" auf der Hand. Also das technokratische Versprechen, Politik, Herrschaft, Entscheidungsnotwendigkeit zu eliminieren liegt diesen Wissenschaften in ihren verschiedenen Varianten durchaus zu Grunde. Und damit das Versprechen, die ältere Form, ich will das ruhig mal in diesem ganzen Spektrum benennen, von Philosophie, Rhetorik, religiöser Predigt abzulösen. Ganz klar: bis in die Gegenwart hinein, wenn wir uns Diskurse von führenden Politikern angucken, wird da nicht wissenschaftlich argumentiert. Es wird hin und wieder auf ein wissenschaftliches Ergebnis sich berufen, als ein Sachzwang, aber die Gründe dafür, sich in bestimmter Weise zu entscheiden, aber die Gründe dafür, sich in bestimmter Weise zu entscheiden, werden immer noch nach den Mustern der Rhetorik, der Philosophie, der religiösen Predigt vorgetragen.

Die technokratischen Sozialwissenschaften, um das etwas abzukürzen, des 19ten Jahrhunderts brachten mit sich das Versprechen einer Vollendung der Aufklärung. Die Aufklärung hat etwa als zentrales Werk die französische Encyclopédie gehabt, in der in der Tat philosophische Religionskritik, physikalische Welterklärung und die Verbreitung des avanciertesten Standes sämtlicher handwerklicher Kenntnisse, sozusagen als ein zusammenhängender Block, zur Durchsetzung dessen, was Thomas Paine, der durchaus in dieser Tradition steht als Amerikaner in Frankreich und Europäer in Amerika, mit einer gewissen Paradoxie als Souveränität der Vernunft bezeichnet hat. Am Ende des Prozesses der Aufklärung steht die Souveränität der Vernunft, was die Aufklärer noch mit Befreiung, Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit gleichgesetzt haben, was im 19ten Jahrhundert in dieser technokratischen Sozialwissenschaft dann verschwindet hinter dieser Formel von "one best way", den die Wissenschaft herausfindet.

Erkenntnis und Veränderung   INHALT

Dieser philosophische Hintergrund, dieser Hintergrund an Entwürfen, wie eigentlich zu leben ist, der ist in dieser Verwissenschaftlichung verloren gegangen. Von da aus wird es auch verständlich, dass etwa gleichzeitig mit der technokratischen Sozialwissenschaft in Gestalt des Marxismus eine Alternativkonzeption entsteht, die neu kombiniert den Anspruch auf durchgeführte Kritik der bestehenden Verhältnisse, ihre wissenschaftliche Durchdringung und auf dieser Grundlage einer wissenschaftlichen Politik erhebt. Das hat natürlich zu allerlei Missverständnissen Anlass gegeben, aber hier ist wissenschaftliche Politik, trotz einiger verwirrender Äußerungen etwa von Engels, der mal prognostiziert hat, am Ende würde, wenn alle Herrschaft überwunden ist, nur noch die Verwaltung von Sachen, das war die technokratische Formel Saint-Simons, und Engels fügt hinzu ‚die Leitung der Produktion’ übrigbleiben und Politik nicht mehr notwendig sein, man müsse sich nicht mehr entscheiden. Das ist durchaus anschließbar an das, was Thomas Paine über die Souveränität der Vernunft gesagt hat, aber nicht kohärent anschließbar an das, was Auguste Comte über die Wiederherstellung von Ordnung in der Gesellschaft durch die organisierte Durchsetzung der besten Lösung, - das war dann die technokratische Konkretisierung - gesagt hat.

Dieser Zusammenhang lebte aber, glaube ich, von einer zentralen Überlegung bei Marx und im frühen Marxismus. Nämlich von der Überlegung, dass es möglich sei, aufgrund der wissenschaftlichen Einsicht in die Widersprüchlichkeit der kapitalistischer Verhältnisse, dieselben rasch zu überwinden. Dass also der Prozess der theoretischen Kritik, der wissenschaftlichen Erkenntnis und der praktischen Transformation zeitlich eng zusammenfallen würden. In den Thesen zu Feuerbach, die Engels ja ganz eigentümlich umredigiert hat - in der elften These setzt Engels, nicht Marx, die Erkenntnis der Wirklichkeit in Gegensatz zu ihrer Veränderung, während Marx das als Kontinuum behandelt - hier hat Marx ganz stark darauf orientiert, dass wirkliche Wissenschaft, die aber nur entsteht in einem Prozess, in dem die Selbstveränderung der Subjekte mit der Veränderung der Verhältnisse zusammenfällt, dass diese wirkliche Wissenschaft die Philosophie aufhebt.

Dieser Gedanke der Aufhebung der Philosophie hat mich also umgetrieben und ich habe mich gefragt, warum ist diese Aufhebung der Philosophie nicht erfolgt? Schon Labriola, also wenig nach Marxens Tod, ein kluger italienischer Marxist, betreibt marxistische Philosophie und ich will Sie jetzt nicht langweilen mit der langen Liste derer, die marxistische Philosophie nach Labriola betrieben haben. Wie geht das in einer Theorie, die sich explizit als Aufhebung der Philosophie begriffen hat und wo Marx sich auch zunehmend mehr dem Abschluss seines Systems der Kritik der politischen Ökonomie, wie man vielleicht formulieren kann, gewidmet hat und nicht etwa mehr der Formulierung selbständiger philosophischer Überlegungen. Da liegt das erste Problem.

Philosophien der Gewalt   INHALT

Es gibt aber auch ein zweites Problem. Nämlich, die Philosophen seit Marx haben ziemlich kreativ auf diesen Angriff reagiert, und das ist bei Marx natürlich noch nicht behandelt, auch nicht bei Engels. Engels hatte es ja nur mit den kleinen Philosophen wie Düring zu tun, nicht mit den etwas größeren, die dann anschließend aufgetreten sind. Die haben ihrerseits das Verständnis davon, was es heißt, die Welt zu interpretieren und wie sich das zu ihrer Veränderung verhält, radikal umgewälzt. Der erste, den man hier nennen muß ist Nietzsche, man kann aber auch die Philosophen Husserl oder Peirce nennen, die tatsächlich so etwas wie eine neue Praxis der Philosophie ganz unterschiedlicher Art begründet haben, in der sich diese Interpretation der Verhältnisse erst einmal von der Wissenschaft löst. Im 19ten Jahrhundert bis in den Marxismus hinein für viele verwirrend war die Selbstverständlichkeit, mit der die im 17ten Jahrhundert erarbeiteten Grundsätze von Freiheit, Gleichheit, Autonomie in liberaler und demokratischer Form sozusagen das gemeinsame Medium waren, in dem sich die ganze Debatte bewegte, und deswegen nach Hegel kaum mehr explizit artikuliert wurde. Hegel hat sich ja noch darum bemüht, das aufzuheben und zusammenhängend darzustellen und daran liegt auch immer noch die Stärke, die es verbietet, wie Marx immer gesagt hat, Hegel als toten Hund zu behandeln. Aber diese neue Generation von Philosophen bricht mit dieser Kontinuität und entwickelt philosophische Interventionen, die gegen die Gedanken von Gleichheit, Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung, oder Herrschaft des Gesetzes oder gar Herrschaftsüberwindung auf dem Gedanken des Rechts des Stärkeren, auf dem Gedanken der Überlegenheit des Wissenden auf dem Gedanken des höheren Wissens beruhen. Also wenn Sie sich bei Husserl das ansehen, das ist ja ein geradezu besessenes Streben nach einem unerschütterlichen Fundament für die Philosophie, die das philosophische Wissen als ein besonderes, allem übrigen Wissen überlegenes Wissen begründet und damit auch die Überlegenheit der Philosophen gegenüber allen gewöhnlichen Menschen. Dieses neue Motiv des Philosophierens, das natürlich an alte, wie ich denke skandalöse Motive der Philosophie, die sich schon seit Platon immer wieder zur Rechtfertigung von Herrschaft, der Herrschaft von Menschen über Menschen hergegeben hat, was aber in der neuzeitlichen Philosophie im Ansatz überwunden war, deswegen gibt es eben diesen Zusammenhang von Befreiung und Aufklärung. Dieses wird von dieser neuen Generation von Philosophie negiert. Ich denke es ist aber falsch, diese Philosophen deswegen als irrational und unvernünftig zu traktieren, wie Georg Lukács das in seinem, dennoch immer noch lesenswerten Buch über die "Zerstörung der Vernunft" getan hat, sondern die sind höchst intelligent und höchst rational, stellen sich aber in den Dienst eines politischen Oberzieles, das diesem gesamten Projekt von Freiheit, Gleichheit, demokratischer Selbstbestimmung und Herrschaft des Gesetzes entgegengesetzt ist. Das im Selbstgenuß der Herrschaft in den Händen der Herrschenden sozusagen die Würze der Existenz und den Entwurf des lebenswerten Lebens sucht. Deswegen ist diese Philosophie auch zutiefst verbunden mit allen möglichen Formen elitärer Kulturbildung. Deswegen ist sie auch so sehr davon durchdrungen, sich als einen esoterischen Zusammenhang zu konstituieren, in dem die Wissenden in fast schon spätantiken Formen sich von den Unwissenden abgrenzen.

Hieran setzt mein Gedanke der radikalen Philosophie an, wobei der - muss ich dazusagen - gleichzeitig den Versuch macht, Impulse aufzugreifen, die es im angelsächsischen Bereich gibt. Dort gibt es in den USA eine "Radical Philosophy Association" und einen "Radical Philosophy Review" und in London, seit der Studentenbewegung, eine "Radical Philosophy Group", die eine Zeitschrift "Radical Philosophy" herausgibt. Wobei, ich habe dann auch mal im Web und in Enzyklopädien nachgeschaut, was dort so unter "Radical Philosophy" zu finden ist, und habe da ein schönes Resultat gefunden: Da wurden als Autoren, die charakteristisch seien genannt: Proudhon, sozusagen der Begründer des Anarchismus, John Stuart Mill, wenn man seine Freundin Harriett Taylor dazunimmt, eine der Begründerinnen des Feminismus und John Stuart Mill als radikaler Sozialliberaler und dann ein gewisser Karl Marx. Wenn auch hinzugesetzt wird: der jugendliche, derjenige der Rheinischen Jahrbücher, der Radikaldemokrat und Radikalsozialist Karl Marx. Das Spannende ist zweierlei: Einmal, und das ist stärker in der amerikanischen Variante ausgeprägt, wird das als Zusammenhang gesehen. Ganz unbefangen. So sehr, dass auch etwa mexikanische Marxisten sagen: ja natürlich sind wir radikale Philosophen. Weil für sie ganz klar ist, das sie in diesen Zusammenhang gehören. Wenn ich sie frage, wie ist es denn mit eurer marxistischen Kultur, ist das einfach Teil dieser radikalphilosophischen, sagen sie: wir als Marxisten vertreten eben unsere Position innerhalb das Kontextes der radikalen Philosophie. Es ist eine andere Art, sich einzuordnen und einzuwirken auf die anderen, die ich erst einmal produktiv finde. Und im Fall der Engländer - viel stärker noch - ist gleichzeitig damit verbunden ein Aufnehmen der neuesten Formveränderungen der philosophischen Tätigkeit selber, die jetzt nicht mit dem Namen der ersten Generation, die ich schon genannt habe, unmittelbar verknüpft ist, obwohl die auch immer mal wieder vorkommen, sondern mit der zweiten Generation, für die man vielleicht den Namen von Martin Heidegger, von Ludwig Wittgenstein und wahrscheinlich muss man an dieser Stelle noch Michel Foucault, auch wenn er erheblich später kam, einsetzen. Weil Sartre, der sozusagen noch zeitgenössisch, wenn auch als jüngerer, gewesen wäre und Merleau-Ponty, der auch zu nennen wäre, noch in viel höherem Maße traditionelleren Philosophieformen Anschluss gehalten haben, wie das der französischen Philosophiekultur bis heute eher entspricht.

Dekonstruktion   INHALT

Man kann sagen, dass sich in den Zwanziger-, bis in die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein so etwas wie ein zweiter Formwandel, nicht ein radikaler, aber eine Ausarbeitung, eine intellektuelle Höhergipfelung und weitere Elaboration der von Philosophen wie Nietzsche, Bergson, Husserl betriebenen Erneuerung einer nachmetaphysischen Philosophie, eingestellt hat. Die "Radical Philosophy" in London - und das hat mich fasziniert - leistet das, dass sie diese Formveränderung der philosophischen Tätigkeit im Sinne eines radikalen Denkens, durchaus vergleichbar den amerikanischen Kollegen, Rechnung trägt. Das führt natürlich dazu, dass da relativ im Zentrum die neuere französische Debatte steht, also Deleuze, Guattari oder die Debatten um Wahrheitspolitik mit Alain Badiou, Etienne Balibar, Dominique Lecoutz, Slavoj Zizek und so weiter und so fort. Ich will Sie jetzt nicht mit Namen langweilen. Eine Philosophie, die unter dem Stichwort der Dekonstruktion oder auch der Postmoderne bekannt geworden ist und die sich eben von der Moderne, wie sie im 19ten Jahrhundert konstituiert hat, das ist nicht das 17te und 18te Jahrhundert, die da im Vordergrund stehen, dadurch abgrenzt, dass sie erkennt, dass etwa die Marx´sche Besessenheit - oder besser die frühmarxistische Besessenheit, den Marx selbst hatte dazu ein komplizierteres Verhältnis - mit dem, was dann der Abschluss des Marx´schen Systems genannt worden ist, dass man also diesen Erkenntnisprozess so weit abschließt, dass dann irgendwann die positive Erkenntnis der Wirklichkeit systematisch vorliegt und gewissermaßen sich nur noch die Frage der Umsetzung in die Praxis stellt, die politische oder administrative Praxis, weil man ja die Wahrheit schon fertig zwischen Buchdeckeln hat, eine naive Vorstellung ist. Eine Vorstellung, die nicht berücksichtigt, das menschliches Wissen sich permanent in den Köpfen der Menschen, die es rezipieren und auf dieser Grundlage handeln, reproduzieren muss.

Das Palaver der Menschheit   INHALT

In meinem Buch habe ich dafür die Metapher - es ist aber nicht nur eine Metapher - des ständigen - oder unaufhörlichen Palavers der Menschheit gewählt. Wir sind eben nicht irgendwann fertig mit reden und haben dann das Resultat, sondern wir müssen dann über das Resultat, das irgendjemand gefunden hat, über die Antwort auf eine Frage weiterreden und das immer wieder neu, selbst, wenn wir es dann nur noch reproduzieren, für uns aufführen und aneignen und in aller Regel - das wissen wir spätestens seit Günter Grass - zersingen wir dabei, modifizieren wir dabei, variieren wir dabei das, was wir so wiederholen. Das heißt, die Vorstellung, denn Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis abzuschließen, ist nicht nur deswegen falsch, weil, wie kluge Leute seit den 20er Jahren immer wieder gesagt haben, jede Antwort auf eine Frage mindestens zwei neue Fragen aufwirft. Die Vorstellung, das irgendwann einmal das Buch der Physik ausgelesen ist - was Wissenschaftler im 19ten Jahrhundert wirklich geglaubt haben, sie dachten, sie stünden vor dem Abschluss der physikalischen Forschung, diese Vorstellung ist wissenschaftlich schon nicht haltbar, aber wenn wir das Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis von Menschen begreifen, dann ist sie auch politisch-praktisch gar nicht haltbar, weil da dieser Prozess, dass die Menschen sich das, wonach sie handeln sollen, was sie begreifen sollen, selber aneignen müssen und das nicht abgeht, ohne dass es zu Differenzen kommt und ein "one-best-way" dann nur im Wege des Dogmatismus und der (versuchten) administrativen Ausrichtung und Zensur festgehalten werden kann, dessen zerstörerische Konsequenzen dann im Realsozialismus ja vielfältig zu besichtigen waren.

Die Sozialwissenschaften als Verwaltung der Verhältnisse   INHALT

Um noch einmal an den Anfang zurückzukommen: Was hat das mit Krieg und Frieden zu tun? ich denke eine ganze Menge. Weil diese Sozialwissenschaften, diese technokratischen, die für das 19te Jahrhundert und große Teile des 20ten Jahrhunderts prägend geblieben sind, waren im Großen und Ganzen in erster Linie, trotz ihres Kriegseinsatzes im ersten und zweiten Weltkrieg, aber das war eben der Versuch sie trotzdem einzusetzen, Friedenswissenschaften. Es waren Wissenschaften, wie man im Frieden die Verhältnisse, die als vernünftige unterstellt waren, kohärent hält, verwaltet und optimiert. Das war der Gegenstand dieser Forschung und deshalb war diese Forschung auch - wie schon Lukács bemerkt hat - so eigentümlich lückenhaft strukturiert. Sie richtet sich nur auf das, woran ein Interesse bezüglich des praktischen Handelns besteht. Die Frage einer Änderung der Verhältnisse wurde nicht zum Gegenstand der Forschung. Wenn diese Forschung auch weit über das hinausging, was im 18ten Jahrhundert etwa unter dem Titel der Kameralistik - und das hat in Deutschland sehr stark die Tradition geprägt: die deutschen Staatswissenschaften, als Alternative zu den Sozialwissenschaften, die bis in die 20er und 30er Jahre hinein bestanden hat – betrieben wurde, waren sie doch insofern eine Fortsetzung der älteren Kameralistik, die noch, wenn sie so wollen, handwerklich, manufakturmäßig vorging und deswegen dann auch im einzelnen viele brillante Stücke hervorgebracht haben und nicht industriell, nach wiederholbaren Verfahren, massenhaft Erkenntnisse und Gutachten und Beurteilungen und Evaluationen produzieren konnten. Die aber gleichzeitig auch den Bedeutungswandel, den wir im Wort Statistik erleben, nicht adäquat mitvollziehen konnten. Die ältere Statistik ist eben der Vorläufer der Staatswissenschaften. Das ist alles das, was die Staatsverwaltung wissen muss, beziehungsweise, was jemand, der in die Staatsverwaltung eintreten will, vorher an den Landesuniversitäten, die im 17ten Jahrhundert gegründet oder umgewandelt wurden, gelernt haben musste, damit er ein kompetenter Staatsverwalter war. Seit dem 19ten Jahrhundert verwandelt sich die Statistik aber in die Wissenschaft von Durchschnittsverhältnisse bei großen Massenzahlen und darüber hinaus in die Wissenschaft aus diesen Massenzahlen Indikatoren für kritische Entwicklungen zu gewinnen. Also eine doppelte Verwandlung: Anstatt einer im wesentlichen kompletten Beschreibung - so ein absolutistischer Verwalter wusste, was es in seinem Land für Bauernstellen gab, wie viel Vieh die hatten, das konnte er sozusagen nachzählen, darüber gab es Akten - weiß jetzt eine moderne Verwaltung, wie sich das Wachstum des Viehbestandes verhält, wie sich der Markt verhält und kennt ein paar Schwellenwerte, wo man dann vielleicht intervenieren muss, wenn etwa eine Maul-und-Klauenseuche ausbricht oder wenn BSE überhand nimmt. Das ist jetzt ein sehr einfaches und vielleicht polemisches Beispiel. Aber in dem Sinne werden für alle Bereiche Erhebungsverfahren definiert, es wird überlegt, wie kann man möglichst einfach quantitative Verhältnisse wiedergeben und was ist an diesen quantitativen Verhältnissen interessant. Wann muss man was unternehmen, wann kann man sagen, hier gibt es keinen Handlungsbedarf. Das ist die Verwandlung zur modernen Statistik.

Und man hat auch lange Zeit gedacht, wenn man die Statistik praktisch ergänzt durch eine entsprechende Versicherung - das ist ja der Grundgedanke der modernen Sozialversicherung - dann braucht man die Politik gar nicht mehr. Dann braucht man sich Gedanken darüber, wie das grundsätzlich einzurichten ist, ob vielleicht hier Herrschaftsverhältnisse vorliegen, die zu kritisieren sind, gar nicht mehr zu machen. Weil man mit Hilfe der Statistik so einrichten kann, dass im Durchschnitt für alle zu bezahlbaren Tarifen eine Sicherung vor den Risiken, denen sie unterliegen, zu erreichen ist. Nun wissen wir aber inzwischen auch, dass in modernen Gesellschaften nicht nur kalkulierbare Risiken existieren, sondern auch völlig unkalkulierbare Gefahren, die durch eine solche, statistisch begründete Versicherung nicht aufzufangen sind. Das heißt, die grundsätzlicheren Fragen: was für eine Art der Praxis ist überhaupt zulässig, was ist vertretbar, was ist im öffentlichen Interesse, was ist unter Umständen geboten lassen sich nicht durch diese statistisch modernisierten Sozialwissenschaften beantworten, sondern die erfordern weiterhin eine Auseinandersetzung darüber, wie wir selbst eigentlich leben wollen oder wie diejenigen, die in einer Gesellschaft die Machtpositionen besetzen, wollen, dass die Mitglieder der Gesellschaft leben sollen. Diese Art von Diskursen wird durch die Verwissenschaftlichung der Politik - ein anderes Stichwort aus diesem Kontext - nicht wirklich aufgehoben.

Das hat natürlich die Philosophie auch immer wieder erkannt und allerdings mit ziemlicher Verspätung erst darauf reagiert. Eigentlich erst darauf reagiert, als in den 60er Jahren, weltweit kann man sagen, Jugendliche die Frage gestellt haben: was soll das eigentlich alles? Warum ist das so, wie es ist? Die Eltern haben sich in der Nachkriegszeit in den Wiederaufbau dieser Verhältnisse gestürzt und in diesem Zusammenhang sicher eine der erfolgreichsten historischen Perioden des Weltkapitalismus produziert, aber in den 60er Jahren stellte sich dann den Jugendlichen die Frage: Ja, wozu haben sie das gemacht? Was haben sie davon gehabt? Wozu ist das gut? Was haben wir davon? Und diese Fragen waren mit der Art von im modernen Sinn statistisch aufbereiteten Antworten, die die Sozialwissenschaften zu bieten hatten, nicht zu beantworten. Es kommt auch im Zuge dessen zu einer Welle von Wissenschaftskritik und die vorherrschende akademische Philosophie, die sich darauf zurückgezogen hatte, zu begründen, wie eigentlich Wissen zu begründen ist und zu begründen, wie individuell vertretbar zu leben ist - das waren die beiden großen Fragen, Wissenschaftstheorie und Metaethik, die war dazu auch nicht in der Lage. Das führte dann historisch in London zu dieser Aktualisierung des Gedankens der Radikalen Philosophie, die sich dann versucht, allmählich auf diese neue Ebene philosophischer Tätigkeit zu begeben. Daran wieder anzuknüpfen, ist wichtig. Ich möchte das noch an einem letzten Punkt illustrieren, bevor ich mir dann das Wort abschneide.

Krieg als Alltag    INHALT

stealth Nämlich an der Frage Wissen über Krieg. Ich habe gesagt, die Sozialwissenschaften waren im Wesentlichen, trotz ihres Versuches zum Kriegseinsatz im ersten und zweiten Weltkrieg, vor allem in Deutschland, aber durchaus auch in Großbritannien, Frankreich und den USA, Friedenswissenschaften. Im Krieg wurde dann von vorn herein viel stärker mit den Mitteln der klassischen psychologischen Kriegführung, wie das dann später etwas euphemistisch hieß, der Propaganda operiert, wurde an die Stelle einer statistischen Erfassung der Verhältnisse ihre totale Mobilisierung und kriegsmäßige Erfassung - das sind Worte, die aus der Kriegspraxis kommen - gestellt. Literarisch lässt sich das daran nachvollziehen, dass für diesen ganzen Bereich, anders als im Bereich der friedensmäßigen Gesellschaftswissenschaften, wo eine differenzierte wissenschaftliche Forschung mit den statistischen Mitteln, die ich beschrieben habe und mit den Lücken, die Lukács bemerkt hat, an die Stelle der hegelianischen Synthesen der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts getreten war, blieb im Felde der Kriegswissenschaften des, insofern durchaus Hegel vergleichbaren, Kriegsphilosophen Clausewitz, die avancierteste wissenschaftliche Behandlung, die auch nicht durch eine differenzierte positivistische Kriegsforschung abgelöst wurde. Man lebte ja auch nicht in einer Zeit, wo der Krieg in Permanenz herrschte, sondern die großen industrialisierten Kriege lassen sich aufzählen: der Krim-Krieg, der amerikanische Bürgerkrieg, der deutsch-französische Krieg von 1870/71, dann der erste Weltkrieg, dann der zweite. Wobei sich um den zweiten noch eine ganze Reihe von Kriegen gruppieren, vor allem der chinesisch-japanische Krieg, der 1936 schon beginnt und der eigentlich zum Kriegsgeschehen auch von Anfang an dazugehört. So lange dies so war, war im Krieg so etwas wie philosophische Synthese immer schon vorgedacht und das deutsche Bildungsbürgertum hat ja auch in Kriegszeiten massenweise den Clausewitz verschlungen. Jetzt nicht um mit Hilfe von Clausewitz wirklich zu begreifen, was geschah, sondern um mit Hilfe von Clausewitz sich selbst gedanklich einzuordnen in das, was der Staat an Mobilisierungsanforderungen ihnen gegenüber formulierte. Clausewitz enthält zwar, so wie Hegel über die moderne bürgerliche Gesellschaft und ihren Staat allgemeiner, ganz wesentliche Einsichten über Krieg, kriegerische Verhältnisse, antagonistische Auseinandersetzungen, Verhältnis zwischen Politik und Militär und so weiter, da ist viel zu lernen. Aber man kann nicht sagen, dass er das in kritischer Form formuliert, sonder er formuliert es in affirmativer Form. In einer Form, die davon ausgeht, dass es gut ist, wie es ist und dass die Pflicht des Soldaten und auch des Generals im Gehorsam besteht. Punktum.

Dass unter dieser allgemeinen Prämisse dann vielfältige Probleme, Widersprüche und auch kritische Punkte behandelt werden, gilt für Clausewitz wie für Hegel. Aber diese kritische Pointe herauszuarbeiten, das wird von ihnen nicht grade befördert. Wenn wir uns die gegenwärtige Situation angucken, dann können wir beobachten, dass Clausewitz wieder gelesen wird, übrigens weltweit, aber auch chinesische Klassiker wie Sun-Tzu "Über die Kunst des Krieges" werden gelesen - und zwar in Friedenszeiten. Oder in dem, was man als Friedenszeiten bezeichnet. Ich würde darin zunächst mal ein Indiz sehen, dass die Entgrenzung, die ich beschrieben habe, auch die Grenzen von Krieg und Frieden offensichtlich verschoben hat und die neoliberale Zuspitzung des Wettbewerbs aller gegen alle so angelegt ist, dass sie von dem Krieg aller gegen alle nur noch nuancenmäßig unterscheidbar ist. So dass diejenigen, die sich im Wettbewerb aller gegen alle befinden, es offenbar nützlich finden, sich selber subjektiv mit Werken, die alleine der Zurichtung der Offiziere auf den Krieg dienten, zu wappnen und zu stärken. Das ist die erste Beobachtung, die hier zu machen ist. Die zweite Beobachtung ist, dass selbstverständlich inzwischen - und da ist eine finsteres aber sehr instruktives Kapitel überhaupt erst aufzuarbeiten, da hat die Friedensbewegung in den 80er Jahren große Vorarbeiten geleistet - auch die Strategie nicht mehr auf dem Stand von Clausewitz oder Sun-Tzu liegt, sondern hier so etwas wie eine verwissenschaftlichte Spiel- und Gleichgewichtstheorie entwickelt worden ist. Das berühmte Gleichgewicht des Schreckens, wo man versucht hat, mit der Szenario-Methode Pfade der Entwicklung in Krisensituationen, der Antizipation von Reaktionen, mögliche Bifurkationen - Sie merken, ich benütze zur Beschreibung Ausdrücke der avancierteren Systemtheorie, die meines Erachtens auf diese Zusammenhänge zurückgeht - hier also haben wir eine Verwissenschaftlichung des Krieges, die durchaus inzwischen der Verwissenschaftlichung der sozialen Verhältnisse mit den technokratischen Sozialwissenschaften vergleichbar ist, die aber so wie die verwissenschaftlichten Sozialwissenschaften die Faktoren von Herrschaft und Unterwerfung, von gesellschaftlicher Teilnahme und Ausgrenzung de-thematisiert haben, das Thema der Gewalt, der gewaltsamen Unterwerfung des Willens des Feindes auch de-thematisieren. Also in ähnlicher Weise Lücken produziert haben, wie das die Sozialwissenschaften im Hinblick auf gesellschaftliche Verhältnisse getan haben. Das heißt, wir haben hier eine Situation, wo auch das Denken über den Krieg für die zentralen Fragen von Gewalt und Unterwerfung - und das sind die zentralen Fragen im Krieg - blind wird. Wo - und das ist dann der Gipfel der Perversion - der Gedanke unwidersprochen verbreitet werden kann, man könne Krieg führen durch chirurgische Schläge, wo der Böse eliminiert wird, ohne das Unschuldige getroffen werden und die eigenen Leute dabei ihr Leben aufs Spiel setzen müssten. Es ist, wie man weiß, meistens auch noch gelogen und wird dann versucht, durch Zensur zu stabilisieren, das heißt durch Herausfiltern der Bilder oder Meldungen, die Gegenteiliges zeigen. Aber es steckt eben auch dahinter, dass die Kriegstheorie zur angewandten Spieltheorie transmutiert worden ist und das Thema der Gewalt und der Unterwerfung des Willens des Feindes, aus dieser Spieltheorie des Krieges, die sich dann natürlich auch zu allerlei Computersimulationen prima hergibt, eliminiert worden ist.

Da, denke ich, ist es hier genau so wie gegenüber den fragmentierten Sozialwissenschaften - und das ist vielleicht der letzte Gedanke - es nicht wirklich vielversprechend ist, zu sagen: Wir wollen Ihnen gegenüber die umfassende und durchgeführte Kritik der wirklichen Verhältnisse setzen indem wir den anderen Menschen, den Mitbeherrschten, sozusagen vollständig an die Hand geben, wie sie diese Verhältnisse durchschauen und sich ihrer erwehren können. Man muss sich ja überlegen, was das bedeutet: Dass die Menschen sich aufspalten in welchen, die es durchschaut haben und welche, die es nicht durchschaut haben. Und diejenigen, die es durchschaut haben dann denen, die es nicht durchschaut haben didaktisch pädagogisch, vielleicht mit ein wenig Zwang, vielleicht auch mit etwas mehr Zwang, nahe bringen müssen, sich entsprechend zu verhalten und irgendwann auch einzusehen, dass das richtig ist, sich so zu verhalten. Ich denke, diese Vorstellung der fertig durchgeführten wissenschaftlichen Erkenntnis, bevor man sich daran macht, die Verhältnisse zu verändern, muss man aufgeben. Das heißt nicht, dass man zurückgreifen muss auf traditionelle Verfahrensweisen der Philosophie, also eine neue Ontologie entwerfen, eine neue Erkenntnistheorie entwerfen und so weiter und so fort, aber dass man sich darauf einlassen muss, was mit diesen Mitteln verhandelt wird und diese Mittel für ein Denken von Befreiungsmöglichkeiten einsetzen muss.

Vielleicht doch noch ein allerletzter Hinweis: Ich sehe einen durchaus diskussionswürdiges Exempel eines solchen Verfahrens in dem Buch von Antonio Negri und Michael Hardt "Empire", wo sie in ganz massivem Umfang philosophische Konzepte aus der frühen Neuzeit reaktualisieren um gegenwärtige Herrschaftsverhältnisse in ihrer Differenz gegenüber sowohl dem Hochkapitalismus des 19ten Jahrhunderts als auch dem Hochkapitalismus des 20ten Jahrhunderts zu denken, und wenn das die Aufgabe ist, dann, denke ich, ist es nicht ganz ohne Nutzen, sich klar gemacht zu haben, dass Radikale Philosophie eine Form des Umgangs mit dieser Art von Diskursen ist, die gebraucht wird, um Philosophie und kritisches Denken wieder einzubringen als Beteiligte und nicht als Herrin des Palavers der Menschheit, das weitergeht und das auch auf lange Sicht die Achillesferse der Herrschaft darstellt.

DISKUSSION:   INHALT

Frage nach der Verbindung, die aus der "Vielheit der Vielen" ein politisches Subjekt machen könnte. Wie sei die Richtung politischen Handelns bestimmbar, wenn das große Ziel fehle. Wie könnte man feststellen welche Art Initiative einen Fortschritt verspreche, und welche nicht.

Ich war ja jetzt schon zwei mal bei Veranstaltungen von euch. Es ist wichtig eine solche Initiative zu ergreifen , die versucht, dieses Palaver der Menschheit, diese Notwendigkeit der kritischen Aneignung und kritischen Auseinandersetzung konkret in Angriff zu nehmen, auch wenn man nicht weiß, dass das in x Jahren zum Sozialismus führt und auch nicht als Projekt zur Herstellung eines sagen wir mal lebenswerten Stadtteils einen erkennbaren und von vornherein planbaren Handlungszusammenhang gibt, sondern tatsächlich in solche einer Unübersichtlichkeit bewegt, wo die Initiative sich daran halten muss, was ist in sie an richtiger Bestimmung von Zielen und an richtiger Bestimmung der Ausgangsbedingungen eingegangen. Natürlich hat das keinen Sinn, einfach eine Initiative zu ergreifen und dann den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, was die Chancen angeht. Die muss man schon sorgfältig prüfen. Aber man kann sich davon befreien, dass man dann auch gleich noch wissen muss, wie das die nächsten Jahrzehnte weitergeht. Also hier kann man sich, glaube ich, entlasten und immer wieder neu anfangen. Wenn wir uns angucken, wie solche Ereignisse wie die Gipfelaktionen von Seattle oder Genua zu Stande gekommen sind, dann wird auch deutlich, dass da eine gewisse Unbefangenheit im Spiel ist, die dann aber auch politisches Handeln und politische Kreativität erleichtert. Also in dem Sinne hat dieser Schritt zurück, den das Konzept der Initiative glaube ich beinhaltet, das gebe ich auch durchaus zu, den auch dieses Konzept beinhaltet sich auf philosophische Auseinandersetzungen einzulassen und nicht gleich den Anspruch damit zu verbinden, eine neue Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit vorzutragen, in diesem Sinne hat dieser Schritt zurück etwas freisetzendes. Das zweite, und da kann ich, denke ich, an Negri und Hardt durchaus anknüpfen, die haben ja als zentralen Begriff als Antwort auf die Frage: Wer soll das alles ändern? die Multitudo eingeführt. Die "Menge der Vielen", wie ich das übersetzen würde. In meinem Buch spreche ich nicht von der Menge der Vielen, sondern von den Vielen, und man könnte sagen, dass darin schon ein Umsetzungsschritt liegt. Ich gebe zu, die Vielen. Das ist äußerst abstrakt, damit sind sie noch nicht zu einem politischen Faktor geworden, dass sie viele sind und miteinander über Initiativen und über ein Palaver in Zusammenhang stehen. Sie werden zur Menge der Vielen dadurch, dass sie sich gegen Herrschaft zusammenrotten. Indem sie sich als gemeinsam betroffene von diesem oder jenem Missstand oder, wenn die Analyse weiter fortschreitet, von einem grundlegenden Herrschaftsverhältnis, sei es das Patriarchat, sei es der Raubbau gegenüber der Natur oder sei es das Kapitalverhältnis betroffene begreift.

Es hat in der Auseinandersetzung mit Negri und Hardt den Einwand gegeben, sie setzten den Begriff der Multitudo an die Stelle des Begriffes der Klasse. Diese Interpretation halte ich für falsch. Sie setzen meines Erachtens diesen Begriff der Multitudo systematisch an die Stelle, an der im Kommunistischen Manifest das Proletariat steht. Und wenn Sie Sich in der marxistischen Theorie etwas auskennen, dann wissen Sie, dass das Verhältnis von Klasse und Proletariat kein einfaches ist. Es ist nicht einfach so, dass das verschiedene Namen für die selbe Sache sind. Das Proletariat taucht dann auch in späteren Schriften kaum noch auf. Im Kapital ist vom Proletariat glaube ich gar nicht mehr die Rede, außer an einer rhetorischen Stelle, sondern da ist von Arbeiterklasse die Rede. Mein Vorschlag: die Multitudo ist insofern genauer, als sie eben reflektiert, dass wir es doch sicherlich nicht nur mit einem Herrschaftsverhältnis, nämlich dem des Kapitals, zu tun haben, sondern mit verschiedenen Herrschaftsverhältnissen. Das Proletariat war im Kommunistischen Manifest so strukturiert, dass es eigentlich nur das eine Herrschaftsverhältnis gab, und das andere spielte entweder keine Rolle, oder es existierte gar nicht - das ist etwas unbestimmt. Durch die Erwartung, dass sich der Umsturz so rasch vollziehen würde, war jedenfalls klar, dass man sozusagen die Frage der Geschlechterverhältnisse und der Mensch-Natur-Verhältnisse dann im Sozialismus zu regeln haben würde und sie jedenfalls nicht im Zusammenhang mit der Überwindung des Kapitalismus eine Rolle spielen würden. Ich denke, diese Vorstellung hat sich blamiert. So funktioniert das nicht. Also die Vorstellung, dass wir in den nächsten 20, 30 oder 50 Jahren - ich sage bewusst schon lange Zeiträume - eine Machtübernahme des Proletariats erleben werden, die dann erst die notwendigen Transformationen einleitet, das ist eine Vorstellung, die, glaube ich, kritischer Reflexion der Entwicklung der letzten 150 Jahre nicht standhält. Der Begriff der Multitudo kommt daher, das Thomas Hobbes die Konstitution von Staat und Gesellschaft als eine Konstitution aus vereinzelten Einzelnen, Freien, Gleichen gedacht hat, wobei er dieses so zugespitzt hat: die Multitudo kann überhaupt nur handlungsfähig werden kann, indem sie sich unterwirft. Also nur durch Herrschaft gibt es eine Handlungsfähigkeit, nur indem sich ein Souverän konstituiert, wird die Multitudo aus ihrer Handlungsunfähigkeit befreit. Das ist der Hobbes´sche Gedanke. Und da setzen Negri und Hardt - wie ich finde ganz berechtigt an - mit der Bemerkung, dass schon etwa Spinoza sich bemüht, so etwas wie eine Fähigkeit des demokratischen Zusammenhandelns der Multitudo der Staatskonstitution überhaupt erst zu Grunde zu legen und dafür - denke ich - auch gute Gründe hat. In diesem Sinne mit der Multitudo die Frage nach der Eroberung von Handlungsfähigkeit ohne und gegen die Herrschaft zu stellen, finde ich verdienstvoll. Das ergibt eine zusätzliche abstraktere Kategorie, mit der man dann durchaus darüber nachdenken kann, welche Rolle die Klasse, welche Rolle die Geschlechterverhältnisse, welche Rolle die bewusste Wahrnehmung von Mensch-Natur-Verhältnissen in diesem Prozess von Herrschaftsüberwindung spielen kann. Ich finde, allein die Tatsache, dass man so differenziert darüber reden kann, ist ein Gewinn. das ist ein Gewinn für die strategische Analyse. Das heißt aber nicht, dass damit die Frage nach Klassenpolitik erledigt ist, oder die Frage nach Geschlechterpolitik oder die Frage nach einer politische Ökologie, aber es gibt eine Kategorie an, in der man den Zusammenhang denken kann, nämlich in dieser Perspektive von Herrschaftskritik und Herrschaftsüberwindung. Darin sehe ich das Interessante dieses Begriffs der Menge der Vielen, der durchaus eine Konkretisierung gegenüber dem in meinem Buch noch sehr abstrakt gehaltenen, auf der Ebene, wo ich da verhandle, auch nicht anders konkretisierbaren Begriff der Vielen darstellt. Mir geht es da ja um die Wissensform und Tätigkeit des Philosophierens als Moment des politischen Prozesses.

Frage nach der Bedeutung der zunehmenden Verwendung des Begriffes "Philosophie" in trivialen Alltagszusammenhängen (Produktphilosophie, Werbephilosophie, Regelphilosophie etc.)

Das ist eine ganz spannende Frage. Also erst einmal muss man dazu sagen: Der Begriff "Philosophie" ist historisch, geographisch eng gefasst. Das ist ein Unternehmen - es gibt einen Streit, wer das als erstes formuliert hat - ich nehme an, das war der griechische Philosoph Pythagoras, der verbunden hat ein Programm wissenschaftlicher, zahlentheoretischer Welterklärung mit einem Programm für eine stark demokratisch geprägte politische Umwälzung. Und zwar in Form eines Freundeskreises, man könnte auch Partei dazu sagen, von Pythagoräern, die in Kommunen lebten und in den Städten, in denen sie lebten, gegen die alte Aristokratie die Volksmacht errichtet haben. Und die in der gewaltsamen Reaktion dieser Aristokraten dann größtenteils umgekommen sind. Diese Leute haben den Gedanken der Philosophie, der Liebe zur Weisheit - die Griechen kannten die Institution des weisen Mannes, der so etwas wie ein Konzentrationspunkt gesellschaftlicher Orientierung war in diesen Umwälzungsprozessen des 5. und 6. Jahrhunderts. Und hier haben die Pythagoräer sozusagen einen draufgesetzt und gesagt: Wir sind die organisierten Freunde der Weisheit. Wir erkennen in dieser Organisation die Wirklichkeit und entsprechend dieser schaffen wir in unseren Städten demokratische Verhältnisse. Das ist eine sehr zugespitzte Interpretation, aber sie lässt sich philologisch nachvollziehen. Daran haben dann verschiedene Generationen von Umfunktionierern angeknüpft. Die prominentesten sind sicherlich Platon und Aristoteles gewesen, der diesen Gedanken in Anspruch genommen hat - mit durchschlagendem Erfolg erst seit der Spätantike - für etwas, das man vielleicht metaphysische Philosophie nennen könnte, nämlich eine Philosophie, die erstens die Weltordnung erklärt, aus etwas, das hinter der erfahrbaren, praktisch behandelbaren und erlebbaren Welt des Menschen liegt und zweitens daraus ein Argument gewinnt, warum Herrschaft gut, weil ordentlich ist, und warum man sich ihr unterwerfen soll. Das habe ich vorhin als Skandal der Philosophie bezeichnet: Diese Umfunktionierung. Dieses Unternehmen, so kann man sagen, findet sein Ende 459 mit der Schließung der Philosophenschulen in Athen. Die werden dicht gemacht. Von nun an ist es Aufgabe der Kirche, diesen allgemeinen Zusammenhang zu konstituieren. Da gibt es dann nicht mehr die Figur des Weisen, sondern die Figur des Heiligen. Aber der Heilige ist nur ein Heiliger nach seinem Tod und vorher gibt es den Klerus und die Kirche und die kirchliche Hierarchie, die dann diese Rolle übernimmt. Damit ist für lange Zeit die Frage der Philosophie weitgehend erledigt. Allerdings - und hierin würde ich durchaus einen Effekt des Palavers der Menschheit sehen - sehen auch die christlichen Bischöfe sich sehr bald gezwungen, zu philosophieren und philosophische Abhandlungen gegen die Philosophen zu schreiben. Bekanntestes Beispiel: Augustinus, der selber ausgebildeter Philosoph gewesen ist, bevor er Kirchenvater wurde. Es gibt dann so etwas wie eine christliche Philosophie, die aber einen eigentümlich depotenzierten Charakter hat. Eigentlich Theologie, die aber auf dem Terrain der ihr vorhergegangenen philosophischen Gestalt operiert. Gleichzeitig gibt es - und das ist davon zu unterscheiden - ein Weiterwirken der aristotelisch-platonischen Philosophie in ihrer neuplatonisch-spätantiken Fassung in der arabisch-islamischen Tradition. Die heißen dann auch - mit dem Lehnwort - Falasifa: Philosophen. An diesem Lehnwort Falasifa wird deutlich, dass Philosophie nicht etwas ist, wie wir gewohnt sind zu denken, das Menschen immer schon betrieben haben. "Alle Menschen sind Philosophen", Kant sagt: der Mensch ist ein animal metaphysicum. Sondern dass das ein ganz bestimmtes historisch verortetes und adressiertes ‚Ding’ ist, ein ganz bestimmter Prozess, eine ganz bestimmte Tätigkeitsweise. Ein kulturelles Konstrukt und Produkt, von dem wir hier reden. Nur - und das ist dann das Spannende: Mit der Neuzeit, ich denke seit den Renaissancehumanisten, auch wenn sie sich noch nicht als Philosophen, sondern als Philologen in erster Linie bezeichnet haben, beginnt dann so etwas wie eine Neuaneignung der Philosophie und im 18ten Jahrhundert - les philosophes - das waren die Aufklärer. Das Wort Aufklärer gibt es ja nur auf deutsch, das lässt sich gar nicht in andere Sprachen übersetzen. Da sind es - les philosophes, die Philosophen, the philosophers (im 19. Jh. die ‚radical philosophers’, die sich nicht mit den unmittelbaren Ergebnissen der Revolutionen des 18. Jahrhunderts zufrieden geben. Das führt eigentlich dazu, ohne dass ich das jetzt in allen Einzelheiten entwickeln kann, dass dieser Begriff Philosophie ungeheuer universalisiert wird. Und zwar über diese beiden Gedanken: Befreiung und Aufklärung. Philosophie ist etwas, was letztlich - Gramsci hat das, finde ich, klassisch formuliert, jeder Mensch können und tun können muß, um sich als Freien und Gleichen zu konstituieren, indem er sich das Wissen der Menschheit aneignet und alle Herrschaftsverhältnisse, denen er unterliegt, durchschaut und von sich abstreift. Damit wird Philosophie natürlich zu so etwas wie eine Menschheitstätigkeit. Sie ist gewissermaßen die qualifizierte und konsequente Teilnahme an diesem Palaver der Menschheit.

Das ist dann in allen Kulturen übersetzbar und übertragbar und hat sich auch in allen Kulturen gewissermaßen rückblickend, seine Traditionen erschaffen. Dieses hat dann in diesem Zusammenhang des Endes der Philosophie des 19ten und 20sten, wo das dann alles technokratisch durch Wissenschaft ersetzt werden sollte, praktisch diesen universalen Signifikanten Philosophie freigemacht. Natürlich wurde einem Ingenieur, der eine bestimmte Weise, kybernetische Systeme zu konstruieren praktizierte, der wusste ja, dass er nicht alles vor sich hat und nicht alles konstruiert, was er da so tut, sondern, dass er gewissermaßen im Nacken eine bestimmte Herangehensweise hat und auch z.B. ein kluges Management weiß, dass es nicht alle seine Schritte und Strategien und Taktiken in dieser Weise vor sich hat und bewusst konstruieren kann, sondern auch hier hinter seinem eigenen Rücken etwas mitschleppt, was eine grundlegende, nicht irrationale, aber trotzdem nicht so greifbare Orientierung abgibt und dafür hat sich dann dieser universale Signifikant "Philosophie" angeboten. Insofern würde ich das auch gar nicht nur negativ diskutieren, dass eben von business-philosophy oder design-philosophy oder research-philosophy gesprochen wird. Ich denke man kann da einen durchaus interessanten Sinn entdecken, den es aber unsererseits rückzuentwenden gilt, denn das sind natürlich Formen, in denen Philosophie um ihre von der Aufklärung beanspruchte kritische Pointe gebracht ist. Diese philosophies sind ja alle so, dass man sagt, naja, die habe ich eben. Die Aufgabe, sie kritisch aufzuarbeiten - zu erinnern und durchzuarbeiten, wie Freud gesagt hat - und herauszufinden, was davon trage ich selber, was ist mir aufgedrückt, in was dabei bin in unmündig, in was bin ich frei - diese kritische Frage wird da eben abgeschnitten. Das ist die hier notwendige Kritik. Aber dass die da tatsächlich so etwas wie diesen universellen Signifikanten "Philosophy" für ihr Tätigkeitsfeld in einer intelligenten Weise verwenden - das würde ich denen nicht bestreiten.

Der Begriff würde in den angesprochenen Zusammenhängen weniger als übergeordnetes Gedankengebäude, sondern als Bezeichnung für ein Prinzip verwendet.

Ja. Aber ein Prinzip, bei dem man sich bewusst ist, dass man es nicht einfach nur erfindet und gezielt konstruiert. Es ist ein kleines Stück weit unverfügbar. Das ist der Akzent, den ich da drin sehe. Wobei natürlich die management-philosophy dann Philosophen anheuert um auch dieses noch etwas verfügbarer zu machen. Philosophen sind in der Unternehmensberatung und in der Leitung von Personalauswahlstellen ganz erfolgreich tätig - unter genau diesem Gesichtspunkt. Weil sie nämlcih dazu in der Lage sind, mit solchen, sozusagen nur halb greifbaren Problemen strukturiert, einigermaßen intelligent und nachvollziehbar umzugehen. Sie sind möglicherweise nicht so genial wie andere, aber sie können das dann in einer Weise aufschreiben, dass man es auch einem Dritten und Vierten weitererklären kann. Das ist natürlich in einer Organisation von zentraler Bedeutung. In einer Organisation kann es ja nicht so gehen, dass einer es mal geschnallt hat und der macht es dann die ganze Zeit. Das muss man in irgendeiner Form versuchen, greifbar zu machen und das können dann Philosophen weil gerade die Philosophen jetzt der zweiten und dritten Generation nach Marx Techniken entwickelt haben, mit denen man auch solche halb greifbaren Dinge beschreibbar und diskutierbar zu machen.

So etwas ist natürlich auch mein Versuch, die Praxis der Radikalen Philosophie zu reflektieren und zu propagieren. Das ist auch ein Versuch, auf dieser Prinzipienebene zu mehr Orientierung und Klarheit und Differenzierung beizutragen.

Dies bedeutet, dass sich die Herrscher der Philosophen bedienten. Welche Bedeutung hätte sie für die "Menge der Vielen"?

Wenn Sie Sich die neuere Literatur der Bewegungsdenkerinnen angucken - Negri/Hardt habe ich schon zitiert, ich könnte aber auch etwa auf Slavoj Zizek verweisen - wenn sie das vergleichen mit einem Buch aus den 60er und 70er Jahren: In den 70er Jahren hätte man Marx-Zitate gefunden, insofern auch Philosophie, aber Marx wurde da nicht als Philosoph rezipiert, sondern als Wissenschaftler. Aber sonst? Also ein Maß an Auseinandersetzung mit Philosophen, vor allem klassischen aus dem 17ten Jahrhundert, das man sonst nur in philosophischen Fachbüchern findet. Wenn Sie Sich angucken, was Judith Butler publiziert, finden Sie ein Maß der Auseinandersetzung mit Hegel, dass Sie sonst nur in Fachzeitschriften finden, und Butler ist nun wirklich Denkerin der feministischen und der Queer-Bewegung. Ich will jetzt keine langen Aufzählungen bringen, deshalb bloß diese drei Beispiele. Oder wenn Sie meinen Freund Alain Lipietz über politische Ökologie lesen, habe ich übrigens was übersetzt, 2000, auch da an zentralen Stellen Pascal, Bacon oder Spinoza. Ganz selbstverständlich ist auch in dem kritischen Bewegungsdiskurs der Rekurs auf Philosophen wieder ganz gewöhnlich - und nicht nur eingeschränkt auf so ein bestimmtes Spektrum wo man sagt, Marx, Engels und dann vielleicht noch Gramsci und dann vielleicht noch Brecht, sondern in diesem viel breiteren Spektrum.

Zum im Referat zentralen Begriff der Aufklärung - knüpften nicht Hardt/Negri an einen überholten Aufklärungsoptimismus an mit der zentralen These, dass die Entfaltung der kapitalistischen Produktivkraft ihren eigenen Totengräber in sich berge, indem sie Bedingungen schaffe, die die kapitalistische Produktionsweise automatisch aufhöben. Ob die fortschrittsgläubige Haltung in diesem Lager nicht unseren heutigen Verhältnissen viel weniger gerecht werde als die negativen Geschichtsphilosophien beispielsweise Adornos und Benjamins. Ob nicht die entscheidende Frage wäre, wie man herauskäme aus dieser enormen Fähigkeit des Kapitalismus die Entfaltung von Wissenschaft und Produktivkraft immer wieder sofort für sich zu vereinnahmen.

Also, da muss ich sagen: ich lese da Negri etwas anders, aber es gibt natürlich in großen Teilen der marxistischen Tradition den Gedanken, den Sie da zitieren, nämlich dass die Produktivkräfte selber gewissermaßen die Quelle der Befreiung sind. Das würde ich erst einmal argumentieren: Wenn man ganz genau hinkuckt - dazu haben Reichelt und Zech bei Ullstein Materialien einen schönen Band herausgegeben über dieses Konzept der Produktivkraftentwicklung, wo sie zeigen, dass es eigentlich ein Gedanke aus der Schule Ricardos ist. Von denen aus ist das natürlich auch viel logischer, dass der technische Fortschritt, gut technokratisch gedacht, dann auch irgendwann die Befreiung bringen muss. So haben die Liberalen ja auch die Eisenbahn als Vehikel der Befreiung dargestellt und so hat man die Einführung der Informations- und Kommunikationstechnologien als solche als Grundlage der Abschaffung von Herrschaft verstehen wollen. Dieser Gedanke ist so nicht zentral marxistisch oder negrianisch. Bei Negri sehe ich das eher unter dem Gesichtspunkt, dass er sagt: Die Quelle von Befreiung ist - mit meinen eigenen Worten - immer wieder die Initiative der sich Befreienden. Und diese Initiative ist gleichzeitig die Quelle dafür, dass sich das Kapitalverhältnis erneuert, indem es in passiven Revolutionen - gegenrevolutionär - sich und seine Herrschaft gegen solche Initiativen in neuer Lage behauptet. So wird dann die amerikanische Revolution des New Deal ja sehr idealisierend besprochen, oder die Umwälzung der Oppositionsbewegungen während des Vietnamkrieges. Das hat jedenfalls mit der Produktivkraftentwicklung nichts zu tun. Diesen Strang würde ich in der Negri-Lektüre eher betonen. Und das ist natürlich anschlussfähig an mein Konzept des Palavers der Menschheit, wo tatsächlich die Initiative der Beherrschten einen ganz zentralen Stellenwert haben kann, was längst nicht heißt, dass die Herrschenden selber keine Initiative ergreifen können und auch nicht wesentliche Entwicklungen auslösen können. Da ist es bei Negri etwas einfach gestrickt, das würde ich etwas komplizierter stricken. Das heißt natürlich nicht, dass wir so etwas wie einen Prozes einer permanenten Höherentwicklung haben. Wir haben allerdings einen Prozess, in dem bestimmte Elemente nicht reversibel sind. Also wenn erst einmal der Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion in der Weise reflexiv geworden ist, dass sozusagen die aktive Mitarbeit aller Subjekte für den Prozess der Ausbeutung benötigt wird, dann kann man das schlecht wieder - außer im Fall einer großen Katastrophe, wo man einfach wieder von vorne anfangen muss - wieder reversibel machen. In dem Sinne gibt es also Sequenzen in dem Prozess, wo man, wenn ein Punkt mal überschritten ist, nicht mehr dahinter zurück kann. Das ist ein anderer Gedanke, als dieser Gedanke des automatischen Fortschritts. Und ich denke, man kann auch unterscheiden, das ist aber ganz schwierig, ob bestimmte Zustände zueinander im Verhältnis des Fortschritts oder des Rückschritts stehen. Man kann Kriterien entwickeln und dann sagen, insgesamt hat es einen Fortschritt gegeben. Man kann die dreißig Jahre des Fordismus betrachten und fragen: Welche Fortschritte und welche Zerstörungen hat es da gegeben. Man erhält dann ein mehrdimensionales Bilanzbild, das sich dann nicht einfach auf einer Linie abzeichnen lässt. Aber der Gedanke, zu vergleichen, wo ist das alte überlegen, wo ist das alte unterlegen, wo ist was besser geworden, der ist aus dem Niedergang des Fortschrittsbegriffes zu retten.

Ich würde dann noch einen anderen Gedanken damit verknüpfen, der bei Hardt/Negri unbefriedigend behandelt ist: ihre Behandlung der Biotechnologien ist ausgesprochen unkritisch. Im Grunde so, wie bei Marx und Engels. Die haben sich ja zwar mit Podolinski auseinandergesetzt, also demjenigen, der als erster entdeckt hat, dass man die energetische Bilanz von Produktionsprozessen betrachten muss, also ob die Produktionsprozesse der Umwelt mehr Energie entnehmen, als man ihnen zuführt. Womit dann agrarische Fortschritte zum Teil nur Scheinfortschritte sind, weil da enorme Mengen Energie verpulvert werden und weil der Boden erschöpft wird. Marx und Engels haben gesehen, da ist ein Problem, aber sie waren der Ansicht das sei ein so langfristiges Problem, dass sie sich vor der sozialistischen Revolution nicht mehr damit beschäftigen müssten. In dem Sinne sind auch Negri/Hardt gegenüber der Biotechnologie nicht völlig unkritisch, denken aber die Entwicklung würde so rasch voranschreiten, dass daraus auch die entsprechenden Initiativen der Beherrschten entstehen, dass man sich jetzt nicht vorab genau darüber unterhalten muss, was man hier besser unterbindet, was man versucht zu sabotieren und zu verhindern oder was man zulassen kann. Diese Fragen muss man aber stellen. Aber die Frage der Menge der Vielen und des Widerstands und der Initiative gegen Herrschaft lässt sich, glaube ich, von diesem Produktivkraftoptimismus bürgerlicher Tradition auch bei Negri und Hardt abgrenzen. Ohne dass man auf eine negative Geschichtsphilosophie zurückgeht, sondern ich würde eher sagen: Das wird jeweils immer wieder neu entschieden. Nicht im Sinn, dass ich mich hinsetze und entscheide, sondern das entscheidet sich zwischen den verschiedenen - Clausewitz lässt grüßen - Antagonisten in diesen Kämpfen, in dieser begegnenden Praxis. Wer gewinnt und wer verliert, das entscheidet dann auch über die Pfade der historischen Entwicklung. So würde ich da eher herangehen und das ist anders als Benjamin und das ist auch anders als Adorno. Und ich denke es öffnet für politische Praxis in hohem Grade. Ohne dass man sich dabei auf einen ja immer dumm machenden Optimismus einlässt, der darauf vertraut, dass die Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik als solche bereits Aufklärung und Befreiung bringt.

 
 
   
 
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