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Ulrich Brand

Preguntando Caminamos - 10 Jahre Aufstand in Chiapas

Autorisierte Abschrift des Vortrages im EineWeltHaus München am 15.Januar 2004   INHALT

INHALT:
Einleitung
II. Die Ebenen des Kampfes
IIa: Demokratisierung
IIb. Indigene Rechte und Kultur
IIc. Die Lebensverhältnisse in Mexiko
III. Resonanzen
IIIa. Politik des Fragens
IIIb. Die Teilhabe aller
IIIc. Würde

Zwischendiskussion

IV. Die Bedeutung der zapatistischen Revolution für die globalisierungskritische Bewegung
IVa. Umgang mit staatlicher Macht
IVb. Über die strategische Identitätspolitik
IVc. Die Frage nach den Alternativen

Ausschnitte aus der Schlußdiskussion

Einleitung   INHALT

Vielen Dank für die Einladung. Ich möchte mit meiner eigenen Geschichte anfangen, ganz kurz, die auch irgendwie mit dem Aufstand zu tun hat.
Dann werde ich ein paar Stationen des Zapatismus durchgehen - da werden schon einige Erinnerungen wach - und dann auf den Aufstand selber eingehen.
Im dritten Teil möchte ich ein paar Anregungen ausarbeiten, die mir spannend erscheinen, politische Provokation, politische Irritation, die die Zapatistas bewirkt haben. Um eine Diskussion vorzubereiten, werde ich Dinge eher antippen.
Und in einem vierten Teil dann ein paar Aspekte: Was erscheint mir aus einer zapatistischen Perspektive - und bis dahin wird klar geworden sein, daß ich damit nicht nur Marcos oder die Kommuniqués der Zapatistas meine - was erscheint interessant für die globalisierungskritische Bewegung?

Ich selber war 1992 für ein Jahr in Argentinien, habe als Student Lateinamerika kennengelernt, und ein Versprechen brechen müssen, daß ich nämlich niemals in die USA fahren würde. In Lateinamerika merkt man schnell, wie wichtig es ist, auch die Verhältnisse dort zu kennen. Ich hatte das schon vor dem ersten Januar 1994 geplant, und bin aber dann erst nach 1994 hingefahren, und dann natürlich auch von den USA nach Mexiko, nach Chiapas, mit einer Menschenrechtsgruppe, und ich war fasziniert von Anfang an, von San Christˆ„bal de Las Casas, von dieser faszinierenden Stimmung. Ich kam dann zurück und habe über den Aufstand geschrieben. In der Zeitschrift "links", die vielleicht noch einige kennen, im "Freitag", "Blätter", "iz3w".

Nach der Militäroffensive 1995, als die Zedillo-Regierung zum zweiten Mal versucht hatte, die Zapatistas platt zu machen, haben wir in Frankfurt eine Gruppe gegründet, "Penumbra" , Halbschatten übersetzt, und haben versucht, nicht nur klassische Solidaritätsarbeit zu machen, Rundreisen, Geld sammeln usw, sondern auch zu fragen: Was heißt eigentlich Zapatismus, was bedeutet der Aufstand für uns hierzulande? Dann fand 1996- das wird Einigen noch bewußt sein - in Chiapas das erste Treffen gegen Neoliberalismus und für eine menschliche Gesellschaft statt. Das zweite Treffen war dann in Spanien, 1997, da haben wir uns als Gruppe stark engagiert, und das Zauberwort zu dieser Zeit - heute ist es das ja überall - das Zauberwort zu dieser Zeit war schon "Vernetzung". - Weil die Zapatistas am Ende des ersten Treffens in Chiapas zwei Vorschläge gemacht haben für die - man hat das damals nicht globalisierungskritische Bewegung genannt- für die "Internacionalistas": "Schafft Netze alternativer Kommunikation". Wir können die Mainstreamkommunikation nicht richtig für uns nutzen, wir können sie vielleicht irritieren, aber richtig nutzen können wir sie nicht, wir brauchen alternative Kommunikation und: "Vernetzt Euch!" Bringt Euch zusammen in neuen Formen, es muß nicht die Parteiform sein, sucht Austausch auf internationaler Ebene, um dem Neoliberalismus etwas entgegenzusetzen. Ich selber- und damit schließe ich diesen Bauchnabelblick dann auch schon ab - ich selber habe mich für den Aufstand auch immer als Aktivist interessiert, und dann, 96/97, habe ich mich auch gefragt - ich war damals am Ende meines Studiums, am Anfang meiner Dissertation, - was bewirkt eigentlich dieser Aufstand in den Sozialwissenschaften? Wie kann er eigentlich kritisches Denken irritieren? Und habe dann mit einer Kollegin aus Mexiko, Ana Esther Cecena, ein Buch herausgegeben, "Reflexionen einer Rebellion". Da haben wir Texte übersetzt aus Mexiko, um diesen Aufstand auch einer grundlegenderen Diskussion zugänglich zu machen.

Vor kurzem habe ich - damit ist der Werbeblock dann auch schon abgeschlossen - für die Zeitschrift "das Argument" geschrieben. Die Dezembernummer des letzten Jahres hat das Thema "10 Jahre Aufstand der Zapatistas, zwanzig Jahre Gründung der EZLN", also der zapatistischen Armee, die sie 1993, also vor 20 Jahren gegründet haben. Die letzte Bemerkung: - wenn hier Leute von der Uni sind - mit diesen Publikationen und anderen wollte ich kritisches Denken - gerade aus südlichen Ländern - auch hier wieder zugänglich machen.

Wenn man sich die Sozialwissenschaften ansieht, dann sind die relativ stark angelsächsisch ausgerichtet. Das Englische wird wahrgenommen, Französisches schon viel weniger und Lateinamerika - das ist in der Wahrnehmung der Mainstream-Sozialwissenschaft Dritte Welt. Man muß das nicht ernst nehmen. In den Siebzigern war das mal ganz anders. Und ein zweiter Aspekt, der jetzt aus meiner persönlichen Erfahrung wichtig ist, daß sich kritische Sozialwissenschaften eben auch auf Bewegungen beziehen sollten. Und zwar nicht nur auf die Zapatistas, aber auch auf die Zapatistas, daß also der Bezug auf Kämpfe, auf Widerstände, auf Prozesse von etwas Aufbrechendem, von Emanzipation, daß das durchaus auch unser Denken anregen sollte.

So weit zu diesem Teil.

Ich möchte nun das Hauptthema mit zwei Metaphern beginnen. Es gibt zwei Zitate. Das erste lautet: "Zapatismus ist auf viele Probleme dieser Welt und auf die allgemeine Verfaßtheit dieser Welt keine Antwort. Zapatismus ist aber eine sehr gute Frage." Und ein zweites Zitat, das mich sehr anspricht: "Zapatismus gibt es nicht. Aber er ist eine Brücke, um von der einen Seite zu der anderen zu kommen." Diese zwei Bedeutungen, diese zwei Metaphern, werden meines Erachtens in den letzten Jahren wichtiger, Stichwort: globalisierungskritische Bewegung. Nämlich, daß es viele Fragen gibt und keine einheitlichen Antworten. Ich werde darauf auch nachher noch mit dem Begriff der Ambivalenzen eingehen, der Paradoxien, mit denen Gegenbewegungen heute umgehen müssen. Die Bedeutung des zweiten Zitates, ist der Gedanke der Brücke. Es geht heute darum, - wahrscheinlich schon immer, aber heute wird es, und die Zapatistas weisen uns darauf hin, besonders deutlich - es geht darum, Erfahrungen, Ansprüche, Aussagen in sehr unterschiedliche Lebensverhältnisse zu übersetzen. Es gibt nicht den Zapatismus, den wir nur hier verwirklichen , das gab's auch während des Sandinismus nicht oder während der kubanischen Revolution, oder der leninistischen oder bolschewistischen Revolution. Die Zapatistas haben wie keine andere Bewegung klargemacht, daß es darum geht, Anregungen aufzunehmen, international wahrzunehmen, das Nord-Süd Verhältnis anzusehen, andere Unterdrückungsverhältnisse, und dies alles in die eigenen Lebensverhältnisse zu übersetzen. - Das werde ich in den Begriff "Resonanzen" fassen.

Also "Ambivalenzen, Paradoxien" einerseits und Resonanzen andererseits. Das sind zwei Begriffe, um die ich das, was ich jetzt sagen will, entwickeln werde. Ich werde Vieles nur antippen. Ich kenne Sie, Euch, ja viel zu wenig und hoffe, daß wir dann in der Diskussion die Dinge anpacken, die uns hoffentlich auf den Nägeln brennen.

Was ist vor zwanzig Jahren passiert? Es gibt die berühmten Geschichten von Marcos - am 17. November 1983 sind sechs Revolutionäre aus Mexiko Stadt oder aus den Städten in die Selva Lacandona gegangen und haben versucht, die Indigenas mit durchaus leninistischen, also avantgardistischen "Wir-haben-die Wahrheit" Vorstellungen zu überzeugen, daß man die Welt verändern muß, daß man sich organisieren muß.

Sie sind damit erstmal gnadenlos gescheitert - das ist ja in vielen netten Geschichten veröffentlicht - und sie haben sich dabei selber verändert. Das ist, glaube ich, schon ein wichtiger Punkt, sie haben selber gemerkt, daß die indigene Weltsicht, indigene Erfahrungen ernst genommen werden müssen. Als sie am ersten Januar 1994 den Aufstand begonnen haben findet sich in ihrem ersten Kommuniqué ist ein sehr interessanter Satz, den ich hier wiedergeben möchte. Sie fangen ihr erstes Kommuniqué nicht damit an: " Wir sind das Ergebnis von fünfhundert Jahren Unterdrückung". Da wird man ja sagen: "Die armen Indigenas, immer unterdrückt", sondern sie fangen ihr erstes Kommuniqué an: "Wir sind das Ergebnis von fünfhundert Jahren Kampf". Also vom ersten Moment , an dem sie an die Öffentlichkeit gehen, brechen sie mit unserem Blick auf "die armen Indigenas, immer unterdrückt" und sagen: "Natürlich haben wir eine blutige, dramatische Unterdrückungsgeschichte, aber wir treten für etwas Anderes an, wir treten dafür an, Widerstandserfahrungen wach zu halten und diese Welt radikal zu verändern."

II. Die Ebenen des Kampfes   INHALT

Ich glaube, daß die Zapatistas - neben der internationalen Ebene - also innerhalb von Mexiko sozusagen auf drei Ebenen agiert haben, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Und das versuche ich jetzt in ein paar Minuten - der Realität natürlich nicht gerecht werdend - zu umreißen.

Das Eine war der Kampf um die Demokratisierung von Mexikos. 1994 gab es bereits, damals schon seit über sechzig Jahren, eine Einparteienherrschaft, - die PRI war länger an der Macht als die Bolschewiki, - und es gab seit Mitte der Achtzigerjahre Kämpfe um die Demokratisierung des politischen Systems, um die Abwahl der PRI, nicht nur als Partei, sondern als die Gesellschaft strukturierender, die Politik strukturierender Apparat.

Die zweite Ebene war im Mexiko der Zapatistas immer: Rechte und Kultur der Indigenen in Mexiko zu stärken. Etwas, was immer wieder postuliert wurde, was aber nie erreicht wurde, obwohl 10% der Bevölkerung in Mexiko indigen sind, sich als indigen bezeichnen. Das waren immer "Los Mas Olvidados", wie sie sich selber bezeichnen, die, die am meisten vergessen wurden.

Und auf der dritten Ebene der Auseinandersetzung, ging es natürlich darum, die eigenen konkreten Lebensverhältnisse zu verbessern. Was oft mit so einem emphatischen internationalen Blick vergessen wird: Natürlich ging es auch immer darum, daß die Menschen besser leben wollten.

IIa: Demokratisierung   INHALT

Was die Demokratisierung in Mexiko angeht, waren die Zapatistas, aus heutiger Sicht, sehr erfolgreich. Sie haben nämlich ganz entscheidend dazu beigetragen, daß die PRI im Jahr 2000 abgewählt wurde. Es ist zwar kein linker Kandidat der PRD, also der linksliberalen Partei, gewählt worden sondern mit Vicente Fox ein durchaus neoliberaler Kandidat. sie haben es aber es geschafft, eine ganz zentrale Diskussion voranzubringen: über die Illegitimität, über "el mal gobierno", die schlechte Regierung, und sie sind damit sicher ein ganz wesentlicher Katalysator gewesen, um die demokratischen Kämpfe in Mexiko voranzutreiben. Allerdings vor allem, was das politische System angeht. Die zweite Perspektive der Zapatitas allerdings, nämlich in Mexiko die Menschen dazu zu bringen, daß sie nicht mehr mitmachen, daß sie sich politisieren gegen die schlechten Verhältnisse im Alltag, gegen ungerechte, autoritäre Verhältnisse in der Universität usw., also das zu organisieren, was die Zapatistas die Zivilgesellschaft nennen - Zivilgesellschaft nicht im liberalen Sinn wie hier, sondern kämpfende Menschen - da muß man glaube ich verhaltener sein in der Beurteilung, da ist ihnen nicht so viel gelungen. Die Zapatistas sind weiterhin die bedeutendste Bewegung, man kann zwar auf den Streik an der UNAM, an der Universität in Mexiko Stadt verweisen, und auch auf andere, aber insgesamt hat die große Politisierung in der mexikanischen Gesellschaft nicht stattgefunden.

IIb: Indigene Rechte und Kultur   INHALT

Von Anfang an haben die Zapatistas für die Respektierung indigener Rechte und Kultur gekämpft. Das Stichwort für die, die sich ein bißchen in der Geschichte auskennen: das Abkommen von San Andrès. - Von Anfang an wollten die Zapatistas mit der Regierung darüber verhandeln, daß indigene Rechte und Kultur in der mexikanischen Verfassung festgeschrieben werden und auch materiell respektiert würden, also nicht nur symbolisch festgeschrieben sondern tatsächlich eingelöst. Da nach einjährigen Verhandlungen kam es 1996 zu den Abkommen von San Andrès. Samuel Ruiz, damals Bischof von San Cristˆ„bal, hat dabei eine zentrale Rolle gespielt. Die Zedillo-Regierung, die zugesagt hatte, die indigenen Rechte und Kultur festzuschreiben, hat sich nicht daran gehalten. Ein paar Jahre lang war das auf der Tagesordnung, und es wurde immer wieder darum gestritten, aber die Frage wurde nicht gelöst.

Als die Zapatistas 1998, 1999, 2000 Teil dieser unglaublichen Dynamik zur Abwahl der PRI waren, was zum Erfolg führte, konnten sie nicht gleichzeitig andere Kampffelder eröffnen. Die Frage von indigenen Rechten war da sekundär für die gesamtmexikanische Gesellschaft. Aber nach der Wahl, wenige Tage nach dem Regierungsantritt von Vicente Fox, am 1. Dezember 2000, kam dann die Kommandantur der Zapatistas mit dem brillianten Vorschlag, mit der gesamten comandancia, inclusive dem pfeiferauchenden Sub, durch Südmexiko nach Mexiko-Stadt zu fahren und zu fordern, daß die inzwischen fünf Jahre zuvor mit der Regierung festgelegten Vereinbarungen zu indigenen Rechten und Kultur festgeschrieben würden. Sie haben diese Wahnsinnstour gemacht - ich hatte das Glück, im März in Mexiko zu sein - und am 12. März 2001 vor einer Million Menschen, war diese Reise zu Ende. Ab dem Punkt haben sie darum gekämpft, indigene Rechte und Kultur ins Parlament zu bringen. Wie wir ja heute wissen, ist das gnadenlos gescheitert. Das Parlament hat das völlig verwässert. Fox wollte einen PR Gag daraus machen und hat vorgeschlagen, sich mit Marcos im Fernsehen zu treffen. Marcos war klug genug, es nicht zu machen, weil er natürlich Fox damit unglaublich aufgewertet hätte, als großer Verhandler, als große integrative Figur. Dieser Kampf ist nicht vorangekommen, das muß man glaube ich feststellen. Da hat sich von 1996 bis heute auf der rechtlichen Ebene, auf der Ebene, daß in Mexiko indigene Rechte gestärkt werden, nichts oder relativ wenig getan.

IIc: Die Lebensverhältnisse in Mexiko   INHALT

Und der dritte Bereich, den ich vorher genannt habe, der dritte Aspekt, sind die konkreten Lebensverhältnisse in Mexiko. In Chiapas selber, da, wo die Zapatistas leben, aber auch in anderen indigenen Gemeinden, - es gibt ja sehr viele indigene Völker in Mexiko, - wo sich auch andere sagen: "Hier, wir wehren uns, wir müssen unsere Lebensverhältnisse verbessern." Ganz zentral war natürlich der Kampf um Land. Natürlich gab es Kämpfe um Land bereits vor 1994, aber ab 1994 haben die Landbesetzungen immensen Aufschwung genommen. Gleichzeitig haben die Großgrundbesitzer brutal zurückgeschlagen.

Damit sind wir schon beim zweiten Aspekt: Kämpfe um Land, permanente Kämpfe mit den Paramilitärs, also mit privat organisierten militärischen Einheiten. Die Alltäglichkeit des Aufstands, die Alltäglichkeit, daß Menschen Sachen anbauen, und die Ernte wird vergiftet, die Alltäglichkeit, daß Menschen Geld brauchen, und Prostitution wird eingeführt, die Alltäglichkeit, daß die Gemeinden gespalten werden, diesen Kampf müssen die Zapatistas jeden Tag führen, und sie führen ihn weiter - ich sage jetzt nicht, ob der erfolgreich ist oder nicht, das kann ich nicht, das wäre völlig arrogant, - aber es ist ein Kampf, der immer wieder vorangetrieben werden muß. Was mir nun wichtig erscheint: Nachdem die Zapatistas im März 2001 gemerkt hatten, daß in Gesamtmexiko für ihre Angelegenheit nichts zu reißen ist, daß also das Parlament sich offensichtlich nicht so stark unter Druck gefühlt hat, um ihre Forderungen und den San Andrès-Vorschlag, der ja von Zedillo unterzeichnet worden war, in die mexikanische Verfassung aufzunehmen, haben sie sich zurückgezogen.

Die Zapatistas haben sich eineinhalb Jahre lang nicht öffentlich zu Wort gemeldet, was vielen Internacionalistas Probleme bereitet hat. Sie haben von Marcos und Co keine Äußerungen mehr gehört. Man hat sich gewundert. Ist Marcos krank? Was tun die jetzt eigentlich? Die Zapatistas sind damit zwei Ansprüchen, glaube ich, sehr gerecht geworden. Als wir auf dem Zoccalo standen am 12. März 2001 und hat Marcos als letzter gesprochen. Die Zapatistas waren mit einer Metapher durch Mexiko gereist, nämlich mit der Metapher der sieben Schlüssel. Wir übergeben euch, mexikanische Bevölkerung, sieben Schlüssel, und haben an verschiedenen Stationen Schlüssel genannt. Und natürlich wurde dann auf dem Zoccalo, als letzter, der siebte Schlüssel erwartet. Alle waren gespannt: Was würde Marcos sagen? Und Marcos sagte: Der siebte Schlüssel, das seid ihr. Ihr müßt die Gesellschaft verändern, wir sind das nicht. Und da komme ich wieder auf das eineinhalbjährige Schweigen: Mit einer unglaublichen Konsequenz verweigern sich die Zapatistas jedem avantgardistischen Anspruch, und das ist in dieser Situation am symbolischsten.

Marcos hat ja, wie kaum ein Intellektueller in diesen Tagen, Zugang zur Welt, zu einer bestimmten, kritischen, linken Welt, und er könnte permanent Vorschläge machen, was man machen soll. Aber sie halten sich mit ihren Vorschlägen extrem zurück. Der einzige Vorschlag ist: Ihr müßt die Welt verändern. Deshalb hatten sie aus ihrem Selbstverständnis heraus auch kein Problem damit, sich für eineinhalb Jahre zurückzuziehen. Sie waren mit ihrem zentralen Vorschlag, indigene Rechte und Kultur, erstmal gescheitert. Also haben sie sich auf einen zweiten Schwerpunkt zurückgezogen, nämlich, die eigenen politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse in Chiapas zu verändern. Etwa eineinhalb Jahre war nichts von ihnen zu hören, und sie haben, wie wir heute wissen, seit 1995 die Schaffung der autonomen Gemeinden vorangetrieben und sind dann im Sommer 2003 mit den fünf sogenannten "Caracoles", den "Schneckenhäusern", an die Öffentlichkeit gegangen: Wir haben uns in den vormals fünf Aguascalientes - das waren fünf wichtige Orte in Chiapas, wo zum Beispiel auch das Treffen 96 stattgefunden hatte - autonome, eigenständige politische Strukturen geschaffen. Über die Gemeinden hinaus haben sie sich so eine Art Landkreise geschaffen, und in diesen Landkreisen gibt es eine Art Regierung in ihrem Sinne, die dafür zuständig ist, die örtlichen Belange, Streitigkeiten usw zu klären. Das sind die fünf Caracoles, die fünf Schneckenhäuser.

Die Metapher der Schneckenhäuser hat eine Tradition in Chiapas. Sie bedeutet: Hier ist ein Zentrum, und von diesem Zentrum gehen wir in die Welt, und von der Welt kommt man bei uns ins Zentrum. Aber nicht ins "Zentrum der Welt" im übertriebenen Sinn, sondern ins Zentrum unserer politischen Strukturen. Dort sind die Vertreter der indigenen Gemeinden versammelt und sind für die Angelegenheiten zuständig. "Las Juntas del buen Gobierno", die gute Regierung, während die mexikanische Regierung immer "el mal Gobierno" war - übrigens schon von Zapata selbst in der mexikanischen Revolution so genannt.

III. Resonanzen   INHALT

Nun will ich zum dritten Teil kommen. Das ist jetzt sehr subjektiv und ich hoffe, daß es nicht so mißverstanden wird: da ist jetzt Einer, der so akademisch daherschwadroniert - es ist vielmehr mein Versuch, mit anderen zusammen verschiedene Aspekte des Aufstandes herauszuarbeiten, die vielleicht für uns anregend sind. Das ist meine Perspektive. Es ist jetzt nicht "das sagen die Zapatistas" sondern es bilden sich Resonanzen. Also ich bin jetzt sozusagen Euer Resonanzkörper was ist anregend aus der Sicht der Zapatistas? Ich bitte, das so zu verstehen. Meine These ist: Es gibt Kerne, die ich für sehr innovativ halte und die vor allem mit traditionellen Vorstellungen radikaler Gesellschaftsveränderung brechen, also traditionellen leninistisch geprägten Revolutionsvorstellungen, die - man verändert Gesellschaft über den Staat, man macht sozusagen den Sturm auf das Winterpalais, oder man kommt über Parteien, über demokratische Wahlen an die Macht und verändert dann die Gesellschaft. Die Zapatistas stellen diese Perspektive an vielen Punkten - ich will nur drei nennen - in Frage und versuchen, sie weiter zu entwickeln.

IIIa. Politik des Fragens   INHALT

Der erste Punkt - ein Motto, das wahrscheinlich manchen auch auf spanisch bekannt ist: preguntando caminamos, "fragend gehen wir voran". Ich würde das die Politik des Fragens nennen. Die ist für uns vielleicht nicht so neu, auch die neuen sozialen Bewegungen haben ja nicht unbedingt das große Gesellschaftsmodell verfolgt, aber ich finde sie in einer Zeit sehr wichtig, in der die Gegner, auf die wir uns beziehen, ich nenne es mal etwas platt Neoliberalismus, genau das Gegenteil macht. Neoliberalismus sagt: "Wir haben für alles die Lösung. Die Lösung ist der Markt. Die Lösung ist die Ökonomisierung der Verhältnisse." Die Zapatistas erleben das in Chiapas natürlich am eigenen Leib, und wenn das mit dem Markt nicht so klappt, dann ist halt schnell das Gewehr da, also die Militarisierung und die Vermarktlichung gesellschaftlicher Verhältnisse. Und sie sagen: Wir stellen dem kein Modell entgegen sondern wir haben Prinzipien, wir haben Widerständigkeit, wir wollen Emanzipation, aber wir brauchen auch immer wieder das In-Frage-Stellen dessen, was wir tun. Wir wollen offene Auseinandersetzung. Wir brauchen Erfahrungsprozesse, Lernprozesse. Und das finde ich in dem "Fragend-gehen wir voran" - preguntando caminamos- sehr gut ausgedrückt, sehr gut verdichtet.

IIIb. Die Teilhabe aller   INHALT

Die zweite Anregung ist mit dem Begriff, der natürlich auch von ihnen kommt, des "mandar obedeciendo" - gehorchend regieren - zu fassen. Man könnte vielleicht in Anführungszeichen "imperatives Mandat" sagen, aber das ist sicherlich zu eng gefaßt. Es ist nämlich nicht nur der Modus des Regierens, es ist durchaus Demokratie als Gesellschaftsvorstellung, als Teilhabe von Allen. Wenn man sich mit den zapatistischen Kommuniqués und auch mit ihrer Praxis auseinandersetzt wird deutlich, Demokratie ist gerade in Chiapas, wahrscheinlich auch bei uns, ein sehr voraussetzungsvoller Prozeß. Demokratie hat etwas zu tun mit Information, mit demokratischer Kultur, damit, daß auch die Meinungen der Anderen gehört werden, Demokratie hat etwas zu tun mit Organisation, mit Interessenartikulation - die Interessen der Herrschenden sind immer besser organisiert.

Die Zapatistas sagen: wenn wir Demokratie wollen, wenn wir Selbstregierung wollen, wenn wir selber unsere Lebensverhältnisse gestalten wollen, dann müssen wir uns selbst organisieren und unsere Interessen artikulieren. Und das Interessante ist doch nun, wenn Sie mal zehn Jahre zurückdenken: Warum tritt eine Guerilla von Indigenas, die nie etwas von Demokratie hatte, von bürgerlicher Demokratie, die immer ausgegrenzt wurden, selbst aus den rudimentärsten demokratischen Prozessen in Mexiko, warum kommen die nun mit Demokratie, mit einem sozusagen bürgerlichen Modus? Sie versuchen aus dem Bestehenden und vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen die Stärken, die emanzipativen Anteile des Demokratiebegriffs stark zu machen. Sie romantisieren nicht ihre indigene Organisationsform, sondern ihr Vorschlag ist, liebe Leute, radikalisiert, verändert grundlegend Demokratie, bürgerliche Demokratie. Das halte ich auch für uns für sehr anregend, und Demokratie nicht nur, wie Herr Fischer, Schröder oder wie sie heute auch in Europa heißen, sagen: Es sind Wahlen, und dann machen wir das wieder vier Jahre für euch, sondern es ist natürlich viel mehr, das muß ich, glaube ich, in so einem Kontext nicht besonders betonen.

IIIc. Würde   INHALT

Der dritte Aspekt, der für uns interessant erscheint, - da beziehe ich mich jetzt auf einen Aufsatz von John Holloway, dem schottisch-mexikanischen Staatstheoretiker, in dem Buch "Reflexionen einer Rebellion", - das ist der Begriff der "Dignidad", der Würde. Nicht als "Kirchentagswürde", also nicht mit so einer moralischen Konnotation, sondern: Würde heißt erstmal, sich aktiv zu weigern. Der Ausgangspunkt ist nicht, abstrakt festzustellen: "Ja, wir haben alle eine Würde", sondern Würde heißt: Erniedrigung, Entmenschlichung nicht zu akzeptieren, heißt "Ya basta", es reicht, das berühmte Motto der Zapatistas, als kleinsten gemeinsamen Nenner zu akzeptieren. Dieses Sich-weigern und Eine-andere-Gesellschaft-schaffen - so argumentiert Holloway - das hat traditionell in revolutionären Bewegungen, immer eine Avantgarde übernommen, eine Partei - durchaus mit dem Wahrheitsanspruch, "wir wissen wie das geht".

Holloway macht einen anderen Vorschlag, und deshalb führt er den Begriff der Würde ein. Er sagt: Es geht nicht darum, daß schlechte gesellschaftliche Verhältnisse bestehen, und diese von einer Avantgarde von außen umgeworfen werden. Meine Einschätzung des 12. März 2001, ist wie gesagt: Die Zapatistas verweigern sich der Avantgarde. Der Begriff der Würde meint etwas anderes und zwar, daß Verhältnisse, - die großen politischen Verhältnisse, also staatlich, ökonomisch, bis in unsere Alltagsverhältnisse, bis in unsere Arbeitsverhältnisse, universitäre, private Verhältnisse, - immer widersprüchlich bleiben. Also auch unter brutalsten - ich bin in Chiapas - unter brutalsten, neoliberalen, rassistischen, militaristischen Bedingungen bleibt immer noch ein Rest. Menschen sind nie voll unterdrückt, auch wenn es uns heute manchmal scheint, als wenn das neoliberale Modell sich bis in die letzten Poren der Gesellschaft hineingefressen hat, bleibt bei der Mehrheit der Menschen ein Rest von Würde, und Würde heißt Potential zur Rebellion, heißt, sich zu wehren. Und zwar nicht, zu wehren, indem man ganz groß anfängt, sondern, sich auch kleinteilig zu wehren, gegen Erniedrigung, gegen Ungerechtigkeit in Alltagsverhältnissen, was sich dann aufbauen, ausweiten soll auf gesellschaftliche Verhältnisse.

Ich halte das deshalb für einen interessanten Gedanken, weil wir gerade unter hiesigen Verhältnissen, wo ja auch viele positiv teilhaben, oder zumindest sich nicht aktiv wehren gegen neoliberale, repressive Verhältnisse, daß diese Perspektive uns wieder zu Subjekten macht. Es gibt also nicht das privilegierte Subjekt der Avantgardepartei oder der Indigenas, früher war es die Arbeiterklasse, sondern wir sind erstmal alle Subjekte, potentiell Subjekte. Wie werden nun in Alltagsverhältnissen, in politischen Organisationen diese Anteile des Rebellischen gestärkt? Ich weiß nicht, ob Lehrerinnen oder Lehrer hier sind, oder Hochschullehrerinnen und -lehrer, wir merken das ja bei Studierenden, wie gehen die mit bestimmten Situationen um, mit den eigenen Lebensverhältnissen, mit dem, daß sie etwas lernen über die Welt, wo werden rebellische Anteile, wo werden rebellische Subjektive gestärkt?

Zwischendiskussion:

Zu den gegenwärtigen politschen Verhältnissen in Mexiko.   INHALT

Das ist ja gleich die Gretchenfrage! Wenn man fragt, wie stark ist die Regierung gefährdet, würde ich sagen, nicht besonders stark. Es bestehen zwar Anzeichen dafür, daß die Partei von Fox, die ja eher ein Wahlverein war, die nächsten Präsidentschaftswahlen 2006 sicher nicht mehr gewinnen wird. Es ist vielleicht zu erwarten, daß die PRI, die alte Partei, der institutionalisierten Revolution, so heißt die witzigerweise, sich wieder reetabliert, sie hat noch einen wahnsinnigen Apparat, und, wie mir gestern jemand gesagt hat, es gibt durchaus auch die Einschätzung, daß die PRD, die linksliberale Partei - nicht mit dem alten Kandidaten Cˆ°rdenas, der ja dreimal angetreten ist, sondern mit dem jetzigen Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Manuel Lopez ???einen durchaus ernstzunehmenden Präsidentschafskandidaten hat. Auf dieser Ebene ist es, glaube ich, nicht gefährlich für die Regierung. Wenn man aber die Perspektive der Maulwurfsarbeit einnimmt und sie ernstnimmt, - neoliberale Verhältnisse werden natürlich auch über Regierungspolitik in Frage gestellt - sieht man, daß neoliberale Verhältnisse auch in Frage gestellt werden dadurch, daß Menschen massenhaft nicht mehr mitmachen, daß Menschen sich verweigern.

Wie wird das aber vorbereitet, wie wird Solidarität gestiftet, wie werden Alltagskonkurrenzen unter ökonomisch sehr prekären Bedingungen außer Kraft gesetzt? Da würde ich mir jetzt aktuell keine ganz präzise Einschätzung erlauben, aber der Universitätsstreik an der UNAM, der immerhin größten Universität in Mexiko-Stadt, der acht Monate dauerte, gegen Studiengebühren, und der erfolgreich war, es gibt jetzt keine Studiengebühren in Mexiko, natürlich war das etwas sehr zapatistisches. Sie haben zum Beispiel auf das Instrument der Consulta, der Befragung, zurückgegriffen. (Chiapas ist natürlich nicht zapatistisch. Chiapas ist hochgradig gespalten. Es gibt zapatistische Gemeinden, aber es gibt auch viele Gemeinden, in denen sich Zapatistas und Nichtzapatistas täglich gegenüberstehen. Und da geht natürlich der Staat, das Militär, das Paramilitär, voll rein und trennt. Das geht über Geldzuweisungen usw. man kann sich das wahrscheinlich gar nicht ausmalen, wie schlimm das in der Realität ist.)

Die Zapatistas haben gesagt, um Legitimität für unsere Politik zu schaffen, führen wir das Instrument der Befragung ein. Und zwar nicht Befragen in dem Sinne, daß jetzt jeder seine Meinung abgibt, sondern es werden relativ einfache Fragen gestellt, wo 95% dafür stimmen, aber das politisierende Moment der Befragung, das ist wichtig. Auch die Studenten in Mexiko-Stadt haben den Streik begonnen mit einer Befragung. Und indem man da mitmacht, macht man sich sozusagen zum Teil der Bewegung. Das ist zum Beispiel ein Moment, wo sich was tut. Die Gewerkschaftsbewegung kann ich schlecht einschätzen - man müßte jetzt verschiedene Spektren durchgehen - aber in der Gewerkschaftsbewegung gibt es verschiedene Teile, gerade der privatisierungsbedrohten Industrien, aber auch die Lehrergewerkschaft, die traditionell eine linke Gewerkschaft ist, die sich da anregen lassen.

Mittelfristig werden sich die großen politischen Verhältnisse nicht ändern - obwohl, in Argentinien, da hätten wir im Sommer 2001 auch nicht geahnt, was da möglich ist. Ich will jetzt kein Urteil fällen, es gibt vielleicht ein paar Hinweise.

Über die Consultas:   INHALT

Es ging natürlich auch immer um Entmilitarisierung. Einmal war eine ganz heikle Consulta. Da haben die Zapatistas gefragt, und das war, glaube ich, ziemlich umstritten: "sollen wir perspektivisch die Waffen abgeben?" Und da hat die Mehrheit deutlich mit Ja geantwortet. Und ein Comandante hat jetzt zum zehnten Jahrestag des Aufstandes gesagt: "Wir wollen uns überflüssig machen. Wir wollen nicht mit Waffen leben. Wir wollen natürlich auch wie ganz normale Leute leben." Diese Frage hat nochmal zur Politisierung geführt. Die Zapatistas können natürlich militärisch gar nicht gewinnen. Das wäre ja absurd. Es gibt bei ihnen vielleicht zwei, dreitausend Menschen unter Waffen, natürlich sind sie immer unter der Bedrohung, plattgemacht zu werden. Sie können nur politisch gewinnen, das wissen sie. Aber sie wollen auch gar nicht militärisch gewinnen. Sie entziehen sich der Logik der Militarisierung. Es gab einen kanadischen Film, wo die Filmemacherin, die die Verhältnisse in Chiapas vorstellt, den Zapatistas indirekt vorwirft, sie schützten ihre Leute nicht. Das war nach Acteal, nach dem Massaker von Acteal. Natürlich könnten die Zapatistas, die unter dieser wahnsinnigen Spannung leben, in bestimmten Situationen militärisch dagegenhalten. Aber dann würden sie die Logik der Eskalation mitmachen. Auf den Verteilern der Menschenrechtsbeobachter gibt es immer wieder Fälle, wo durch ein punktuelles Eingreifen vielleicht etwas verhindert werden könnte. Aber sie sagen, wir können es nicht verhindern, wir können nur politisch immer dagegenhalten. Und das war der Hintergrund dieser Consulta, um das Argument auch stark zu machen: Dieser Kampf ist ein politischer. Wir müssen die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen. Wir können nicht mit Waffen gewinnen.

Frage, wie so eine Consulta verläuft.   INHALT

Die eine, bei der ich dabei war, ging von San Cristˆ„bal, dem wichtigsten Zentrum des Aufstandes aus, wo auch viele Menschenrechtsorganisationen und andere Nichtregierungsorganisationen sind, wo Samuel Ruiz saß als Bischof. -Es also beschlossen und von der EZLN verkündet, wir machen eine Consulta, und dann geht die EZLN-nahe Zivilgesellschaft los und organisiert das. Wir waren also in San Cristˆ„bal, dort waren ganz viele Menschenrechtsbeobachter und haben gesagt, ihr zwei oder ihr drei geht jetzt mit auf dieses Camp, da wird die Urne hingebracht. Als wir dort ankamen, war dort schon eine riesenlange Schlange von Indigenas, die da angekreuzt oder mit dem Finger ihre Stimme abgegeben haben, und das war ein sehr würdiger Tag. Die Leute haben den ganzen Tag gewartet, bei Regen, bei Nebel, und sie äußerten sich, sie äußerten sich für ihre Sache. Sie äußerten sich nicht für eine bescheuerte Wahl, wo sie bisher wußten, sie werden eh betrogen. (Jetzt hat ja bei den letzten Wahlen in Chiapas ein Kandidat der PRD gewonnen, der sofort die schlimmste traditionelle PRI-Politik gemacht hat.) Nein, sie stehen da und sie machen sich zum Subjekt in diesem Moment. Die Angst war - denn es war außerhalb der Stadt, weil die Gemeinde zerstritten war -kommen da jetzt Provokateure , aber es verlief gut, und es war ein toller Tag, weil man das einmal mitbekommen hat.

Frage nach dem Verhältnis des EZLN zur Demokratie.   INHALT

Die EZLN ist natürlich nicht demokratisch. Die EZLN ist eine Armee, sie ist eine Milizarmee. Es gibt sozusagen ein stehendes Heer, das immer wieder tauscht. Sie ist der politischen Kommandantur des clandestinen, also des geheimen revolutionären indigenen Komitees ein Stück weit unterstellt, also politischen Entscheidungen. Interessant wird in den nächsten Monaten und Jahren, wie sich denn die Juntas des Buen Gobierno, also diese vorhin erwähnten fünf "Landkreisregierungen", die aus den autonomen Gemeinden kommen, wie die sich nun konstituieren. Denn sie sind dazu da, um Streit zu schlichten, um für eine gerechtere Verteilung zu sorgen.

Es ist zum Beispiel ein großes Problem in Chiapas, daß es so ein paar "Hip - Gemeinden" gibt, wo wahnsinnig viele Ressourcen reinfließen, während andere Gemeinden vergessen bleiben. Also "La Realidad" - das haben manche schon mal gehört - da gibt es einen Stromgenerator, da sind immer wieder italienische Internacionalistas, die da helfen zu bauen, andere Gemeinden bleiben ein bißchen außen vor.

Es gilt also, für Gerechtigkeit zu sorgen bei der Verteilung der Mittel, die nach Chiapas fließen, da gibt es Streitpunkte. Eine ganz wichtige Funktion der Caracoles, der zivilen Regierungen, ist es nun, auch den Nicht-Zapatistas eine Repräsentation zu geben. Sie haben ganz deutlich gesagt, als sie die eingerichtet haben: Wir sind nicht die Vertretung der Zapatistas, wir sind die Vertretung der Indigenen, die hier leben. -

Die Zapatistas haben ja das Motto: Wir wollen eine Welt, in die viele Welten passen. Gut, "viele Welten" sind natürlich nicht Paramilitärs, aber "viele Welten" sind auch Nicht-Zapatistas. Oder sind , wie "Las Abejas" - die Bienen. Das Massaker in Acteal, das waren ja Neutrale, das waren nicht Pro-Zapatistas. Wie gehen sie damit um? Ihr Vorschlag ist: Hier schaffen wir etwas, wo ihr euch auch äußern könnt, wo Streit geschlichtet werden kann. Interessant wird jetzt in der nächsten Zeit, in welches Spannungsverhältnis - hoffentlich produktiv - geht das mit der EZLN-Führung.

Zu den autonomen Gemeinden:   INHALT

Der Versuch der autonomen Gemeinden: Der Vorschlag ist nach der Militäroffensive 1995 entstanden - die mexikanische Armee hatte durchaus wieder Land gewonnen, die Zapatistas hatten einen Teil dessen, was sie besetzt hatten, wieder verloren - es ging darum, eigenständige Gemeinden, in denen die alte Staatsstruktur keine Rolle spielt, zu stärken. Das Stichwort für die alten Staatsstrukturen - "Kazikismus" - bedeutet, daß sich die modernen Regierungsformen verbunden haben mit den durchaus traditionellen indigenen. Zum Beispiel hat die mexikanische Verfassung auf der lokalen Ebene traditionelle Gerichtsbarkeit zugelassen. Die war aber noch hochgradig verbunden mit den weltlichen Machtansprüchen der PRI-Partei. Anekdotenhaft nur, beispielsweise: Wenn jemand schuldig gesprochen wurde, etwas begangen zu haben, Ehebruch, oder was auch immer, dann mußte er oder sie etwa Coca Cola fürs Dorf kaufen. Man konnte aber sicher sein, daß diese Coca Cola vom lokalen Kaziken bereitgestellt wurde.

Die Zapatistas haben ab 95 gesagt, und sagen es seit letztem Jahr verstärkt, "wir brauchen eigene Strukturen, und wir müssen das unterlaufen". Und sie haben das angefangen in den Gemeinden, die absolut prozapatistisch waren, also nicht in gespaltenen Gemeinden. Da haben sie versucht, auch alternative Erfahrungen der Organisierung zu machen, die zwar indigenen Ansprüchen gerecht wird, die aber mit dem alten kazikistischen Indigenen bricht. Sie sagen: Wir wollen unsere eigene Regierungsform entwickeln, denn beides, das traditionelle Indigene und das Staatliche, ist hochgradig herrschaftsvermittelnd, und wir wollen das unterlaufen.

Exkurs: Neoliberalismus:   INHALT

Wenn man Neoliberalismus unterscheidet als Theoriebildung , neoliberales Denken, dann fallen Namen wie Milton Friedman, Nobelpreisträger, Friedrich Hayek, also wichtige Ökonomen, die seit den Vierzigerjahren gegen das sozialdemokratische, wohlfahrtsstaatliche Modell gesagt haben: Das ist alles Quatsch, das ist Vetterleswirtschaft, es darf nur eine Institution geben, die wirkt, das ist der Markt. Friedrich Hayek hat sein Hauptwerk 1944 geschrieben, "Der Weg zur Knechtschaft", und hat gesagt, sowohl der Wohlfahrtsstaat, also die Sozialdemokratie, aber auch der Faschismus, und auch der Realsozialismus, alles drei ist kollektivistisch, ist zu staatlich. Wir brauchen das Individuum, wir brauchen den Markt. Verkürzt gesagt, der Staat soll nur intervenieren, um Recht und Ordnung zu schaffen. Er soll nicht intervenieren in Umverteilungsprozesse, es soll keinen Wohlfahrtsstaat geben, sondern jeder soll gefälligst seines oder ihres Glückes Schmied sein. Die frühen neoliberalen Schriften haben das, was später wichtig wurde, nämlich die wirtschaftliche Außenöffnung, nicht so stark thematisiert.

Dieses Denken, seit den Vierziger- und Fünfzigerjahren entwickelt, wird in den Siebzigerjahren wichtig, in denen der Wohlfahrtsstaat, das Nachkriegsmodell, das goldene Zeitalter des Kapitalismus - für Viele war es gar nicht so golden - in die Krise gerät, und herrschende Kräfte - vor allem Kapital, Bourgeoisie, Unternehmen - neue Formen der Kapitalakkumulation, für Gewinne, Profite suchen. Und da wird dieses neoliberale Denken stark, in dem gesagt wird, der Staat muß sich zurückziehen, es muß privatisiert werden, es gibt viel zu viele Staatsunternehmen, und das Element der wirtschaftlichen Außenöffnung.

Das Experimentierfeld des Neoliberalismus war Augusto Pinochet in Chile, der nach dem Putsch einen dramatischen Wandel vorgenommen hat, der die Rentenversicherung beispielsweise damals schon privatisiert hat. In den Zentren, mit Thatcher 79 und Reagan 81, wurde das dann dominant. Neoliberalismus heute hat sich sehr unterschiedlich durchgesetzt. Unter Kohl kann man schwerlich von Neoliberalismus reden, es hat vielleicht Aspekte gegeben, aber die deutsche Einheit war kein neoliberales Modell, sondern eher hyperkeynesianisch, der Staat hat wahnsinnig viel Geld gegeben.

Wenn man es heute verallgemeinert, heißt Neoliberalismus:

  • Privatisierung von Staatsunternehmen,
  • Staatsrückzug aus sozialpolitischen Bereichen,- wir erleben das ja gerade in den berühmten "Reformdebatten", Gesundheit, Rente, Bildung, Arbeitslose, und Sozialversicherung, -
  • wirtschaftliche Außenöffnung, weil gesagt wird: Markt ist Weltmarkt und nur, wenn die Unternehmen, die "Global Players", weltweit produzieren können, - heute werden 70% des Spielzeugs in China hergestellt, - dann läuft der Laden, und dann kann man die berühmten Produktionsfaktoren, - das sind in China natürlich die billigen Arbeitskräfte - und die fehlenden Gewerkschaften, optimal nutzen.

Neoliberalismus hat aber auch eine sehr starke ideologische Komponente. Denn offensichtlich - und damit muß sich linke Kritik sehr ernsthaft auseinandersetzen- hat sich die neoliberale Staatskritik auf eine bestimmte Art und Weise mit einer linken Staatskritik, die es ja gab in den neuen sozialen Bewegungen, gefunden. Gefunden kann man wirklich sagen bei den Grünen, heute.

Was da formuliert wird, bezieht sich nur noch auf irgendwelche Traditionsbestände, die die Grünen mal hatten, und ist heute durchaus neoliberal "geläutert". Aber, was wir ernst nehmen müssen, ist nicht Rot-Grün, sondern, daß offensichtlich in vielen Köpfen und in vielen Alltagspraxen von Menschen das neoliberale Modell als einzige Alternative gesehen wird. Nicht, indem über Neoliberalismus gesprochen wird, aber, wenn wir an die Universitäten schauen, ist es offensichtlich attraktiv für junge Menschen, den Ellenbogen auszupacken, auf die eigene Karriere zu schauen, sozusagen der eigene "Standort" zu sein, sich selber zu Kapital zu machen.

Was macht dieses Denken so attraktiv? Warum wird von so vielen Menschen neoliberale Politik, ich sage mal Sozialstaatsabbau, warum wird das akzeptiert? Damit muß sich, glaube ich, linke Politik ernsthaft auseinandersetzen, man kann nicht einfach nur sagen: Das ist Schall und Rauch, und eigentlich ist der alte Sozialstaat das Bessere, sondern, da dockt etwas an. Es gibt eine hohe Akzeptanz, die nicht nur repressiv durchgesetzt wird, sondern da machen Menschen mit.

Machen wir's mal mit Deutschland. Das hat mit Kohl begonnen, auch schon mit Schmidt, teilweise, daß der Staat systematisch in Medien, von Regierungen, und natürlich von Think-Tanks, also von Unternehmensverbänden, - man muß sich nur alle diese Chefs in den "Tagesthemen" anhören, - als inneffizient dargestellt wird. Offensichtlich ist in der Gesellschaft die Botschaft angekommen, daß der Staat krotten-ineffizient ist.

Es ist angekommen, daß es sich lohnt, selber aktiv zu werden und den Ellbogen auszupacken das nicht nur was Schlechtes ist. Es hat ja auch durchaus etwas Befreiendes, wenn die Biographie nicht vorgegeben ist. Bei aller Unsicherheit, was Arbeitsmarktchancen angeht, hat es ja auch etwas Befreiendes, nicht von zwanzig bis zur Rente im gleichen Job zu sein, wie es ja für Viele seit den Fünfzigerjahren war. Und das ist ein materieller Aspekt des Neoliberalismus - ich sag' das in Kassel natürlich in der Fußgängerzone - Kassel ist für bundesdeutsche Verhältnisse eine relativ arme Stadt - wenn man die Effekte des Neoliberalismus studieren möchte, sollte man in ein Kaufhaus gehen.

Die Tatsache, daß man heute für einen halben Monatslohn einen Computer kaufen kann, der hochgradig arbeitsteilig international produziert wurde, das kommt irgendwie an, da schaut man mal weg, daß "made in China" draufsteht, oder bei Spielzeug. Also offensichtlich ist die "unsichtbare Hand des Marktes", die zutiefst unmoralisch ist, für den Endkonsumenten irgendwie ok. Turnschuhe, wo gibt es denn heute noch Turnschuhe, auf denen nicht "made in China" draufsteht? Wir wissen, daß da die Arbeiterinnen und Arbeiter nur zwei Dollar maximal bekommen. Aber, es ist irgendwie ok. Kaffee usw., man kann die ganze Palette durchgehen. Wenn man also heute über Alternativen zum Neoliberalismus nachdenkt, dann muß man, glaube ich, - Pierre Bourdieu hat das gesagt - man muß "die Köpfe entgiften", man muß aber auch auf der materiellen Ebene dem etwas entgegenstellten. Und ich glaube, man muß sich eingestehen, daß die Hypereffektivität hierzulande - für die meisten Menschen ist der Weltmarkt ja gar nicht hypereffektiv, für die meisten Menschen heißt Weltmarkt Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit oder Sechzigstundenwoche, Umfallen bei der Arbeit usw. - aber daß hierzulande die hochgradig internationale Arbeitsteilung , der hyperproduktive Kapitalismus, offensichtlich für viele Menschen etwas abwirft, zumindest auf der Konsumebene. (Über die Arbeitsebene müßte man getrennt reden).

Was setzt man dem entgegen? Das ist eine wichtige Frage. Erster Hinweis: Man setzt das Sichtbarmachen entgegen. Das Unmoralische des Marktes. Aber das läßt mich auch ein bißchen hilflos. Da müssen wir wahrscheinlich noch einige Gedanken und Erfahrungen darauf verwenden. Aber ich halte es für ein Problem, das wir nicht übergehen dürfen. Die immense Attraktivität des neoliberalen Konsummodells für viele Menschen, inklusive für Sozialhilfeempfänger, ist nicht zu unterschätzen. Im letzten Weihnachtsgeschäft konnte man sich das überall anschauen.

IV. Die Bedeutung der zapatistischen Revolution für die globalisierungskritische Bewegung   INHALT

Also jetzt nochmal einen kurzen Schritt zurück - oder zur Seite. Ich beziehe mich jetzt stark auf die Thesen, die ich mit Joachim Hirsch in diesem Argument Heft, das vor ein paar Wochen rauskam, entwickelt habe, und möchte anfangen mit einer Bemerkung von Octavio Paz, dem Literaturnobelpreisträger, der ja wie viele andere gesagt hat, "der Aufstand in Chiapas, das ist die erste Rebellion des 21. Jahrhunderts:" Andere sagen, die erste Rebellion der Post-Kalte-Kriegszeit. Andere sagen, der erste Schrei in Richtung Seattle. Ich teile diese Einschätzungen, ich würde sagen, auf der symbolischen Ebene, also auf der Ebene der Wahrnehmung, auf der Ebene der Motivation.

Mit Lust sich zu engagieren, das ist ja ganz wichtig für soziale Bewegungen. Wir sind ja nicht bezahlt dafür - oder die meisten nicht - für irgendwelche Engagements. Es geht darum, sich zu sagen, es lohnt, sich etwas klar zu machen, zu lesen, zu diskutieren und politisch aktiv zu sein. Die Zapatistas haben auf dieser Ebene am ersten Januar 94 unglaublich viel geschafft, und zwar zuerst einmal in Mexiko und in Lateinamerika aber durchaus auch hier.

Allerdings würde ich die Bedeutung der Zapatistas auch nicht überschätzen. Ich bin überwältigt, daß so viele Leute heute gekommen sind, das muß ich ganz ehrlich sagen, aber erstmal sollte man die Bedeutung für eine politische Linke, für eine soziale Linke nicht überschätzen. Meine Einschätzung wäre, daß in den Neunzigerjahren andere Themen wichtiger waren und auch zu Recht wichtiger waren. Das waren antirassistische Themen, antifaschistische Themen, das war nach 89 die Reformierung eines nationalen Konsenses, ich war lange Zeit im Dritte Welt Haus in Frankfurt aktiv, dort hat sich die Guatemala-Gruppe, die lange Zeit Soliarbeit für Guatemala gemacht hatte, komplett in eine Gruppe gegen Illegalisierung von Migranten verwandelt. Die haben irgendwann mal gesagt, Guatemala, das ist vorbei, wir müssen mal unser Politikverständnis überdenken, und wir machen jetzt in Frankfurt, am Flughafen, gegen die Abschiebemaschinerie, für diese Menschen Politik.

Meine Einschätzung also: In Italien, Spanien hat das durchaus auch sehr mobilisierend gewirkt, eine sehr starke Bewegung, bei uns eher nicht so, in Hessen gibt es bis heute mehr Nicaragua-Solidaritäts-Gruppen als Chiapas-Gruppen. Aber Chiapas war indirekt wichtig, hat Mut gemacht, auch durch diese extrem witzige Sprache - wer mal die Chance hatte, in Kommuniqués zu schauen, in den "Geschichten vom alten Antonio" zu lesen, wie der alte Antonio Marcos die indigene Welt erklärt, über Kinder, über Alltagspraxen oder über das Knistern des Papiers des Kaubonbons, - diese Sprache und damit Kritik an der Welt, andere Weltsichten zu formulieren, das fiel aus allen linken Schemata heraus, und das war anregend und unglaublich motivierend, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen und der von vielen anderen.

Wichtig war, glaube ich, auch, daß sie immens glaubwürdig waren. Die Zapatistas haben von Anfang an ihre politisch-strategischen wie auch ihre theoretischen Überlegungen - theoretisch nicht im Sinne von, wie Marcos schreibt "theoretische Pamphlete" -aber die theoretischen Gehalte der Kommuniqués immer sehr glaubwürdig aus den eigenen Lebensverhältnissen heraus formuliert. Sie haben ja nie gesagt: Was wir formulieren, ist für die Welt. Sie haben immer gesagt: Unser Ausgangspunkt ist Chiapas, sind unsere Erfahrungen, unsere Kämpfe, sind unsere Mythen, unsere historischen Traditionen. Vor diesem Hintergrund möchte ich jetzt drei Anregungen, drei Aspekte mit diesem Begriff der Ambivalenzen formulieren. Mit Ambivalenzen meine ich Folgendes: Ich denke, daß eine linke Politik, eine linke Praxis, und zwar nicht nur das Engagement in Parteien oder Bewegungen, sondern auch Alltagspraxis, kulturelle Praxis, daß die aus drei Ambivalenzen irgendwie nicht herauskommt, sondern sie muß damit umgehen. Es gibt nicht die einfache Lösung. "Preguntando caminamos", also "fragend gehen wir voran". Vor diesem Hintergrund bitte ich jetzt, meine abschließenden Bemerkungen zu verstehen.

  • Das Eine ist die Frage des Umgangs mit staatlicher Politik. Der Bezug auf Staat und staatliche Politik.
  • Der zweite Aspekt, aus der Frauenbewegung bekannt, ist, was ich " die strategische Identitätspolitik" nennen würde. Was ist eigentlich politische Identität? Wie erschafft sie sich heute- entsprechend den Zapatistas- in der globalisierungskritischen Bewegung - der "NoGlo"-Bewegung?
  • Und das Dritte - nur nochmal ganz kurz, denn da sind wir ja schon voll drauf eingestiegen, paßt aber gut als Abschluß, - die Frage nach Alternativen.

IVa. Umgang mit staatlicher Macht.   INHALT

Ich rede jetzt ein bißchen gegen attac, obwohl ich selber im wissenschaftlichen Beirat bin. Es geht mir dabei nicht um attac-bashing, sondern, um das ein bißchen zu präzisieren, um die Auseinandersetzung zwischen BUKO, der Bundeskoordination Internationalismus und attac. In vielen Teilen der globalisierungskritischen Bewegung gibt es - sehr platt gesagt - folgende Wahrnehmung: Es gibt die Globalisierung als ökonomischen Prozeß, die wird von neoliberaler Politik gestützt, Schröders und Fischers, Blairs und Bushs machen so mit, aber erstmal ist es ein ökonomischer Prozeß, und Globalisierung muß politisch wieder reguliert werden, über Handelspolitik, über internationale Institutionen, über nicht mehr neoliberale Staaten.

Der Grundgedanke dabei ist, daß wir zwar Bewegungspolitik machen, linke Bewegungspolitik, GATS kritisieren, alles Mögliche kritisieren, für die Tobin-Tax sind, - aber der zentrale Bereich der Politik bleibt doch immer der Staat, und der Staat soll's richten. Am besten Schröder mit einem linken Machtwort. Das denkt natürlich niemand, aber das würde man sich vielleicht sogar wünschen.

Das Problem und die Ambivalenz ist, daß man natürlich einerseits - und das ist ja das Erfolgsmodell attac - das muß man sehr ernst nehmen. Das Anknüpfen, das was Rot-Grün gerade macht, ist unbedingt zu kritisieren, und eine Bewegung muß die staatliche Politik verändern. Daß daran erstmal angeknüpft wird, an einen herrschenden Politikbegriff. Also, mit Überdruck von unten, wird denen in Berlin mal etwas Feuer unter dem Hintern gemacht, oder in Straßburg oder in Brüssel. Dabei wird aber unterschätzt, daß Staat keine neutrale Instanz ist, sondern ein patriarchaler, kapitalistischer, imperialistischer Staat bis in die Strukturen. Daß man also nicht nur einfach sagen kann: Gibt es mehr Bewegungen, dann gibt es den besseren Staat. Sondern daß soziale Bewegungen ernst nehmen müssen, daß gesellschaftliche Verhältnisse und Herrschaftsverhältnisse, neoliberale Verhältnisse, sich viel umfassender herstellen.

Neoliberalismus hat sehr viel mit uns, mit unseren Alltagspraxen, mit Köpfen und Herzen der Menschen, mit den Universitäten, mit ganz vielen Institutionen zu tun und wird nicht nur von oben durchgedrückt. Und das kann man von den Zapatistas lernen, und meines Erachtens wird das von Teilen der globalisierungskritischen Bewegung unterschätzt. Es wird unterschätzt bis in die Strukturen von attac selber - vielleicht unterstelle ich da was, wir können das gerne diskutieren - da gibt's das Fußvolk und den Koordinationskreis, und die Promis von attac machen dann in Berlin Dampf mit dem Fußvolk. Und das unterschätzt ganz Vieles.

Es unterschätzt zum Beispiel, daß man viel umfassender angreifen muß, und es unterschätzt auch, daß 12000 Mitglieder von attac natürlich ganz toll sind, aber natürlich gar nichts, wenn man diese Perspektive nicht teilt, daß sich ganz viel verändern muß. Es muß ja auch nicht jeder zu attac oder BUKO oder wie auch immer gehen, sondern es geht ums Rebellischsein im Alltag. Dennoch würde ich bei dieser Staatsfrage das Kleinteilige nicht gegen die große Politik ausspielen sondern feststellen, daß die Veränderung des Kleinteiligen sich natürlich in staatlicher Politik niederschlägt, in Rechten oder Nichtrechten, im Abbau des Sozialstaats oder nicht. Natürlich ist der Abbau des Sozialstaats ein Problem, aber es reicht eben nicht, zu hoffen, daß irgendwann ein linker Schröder es rückgängig macht, sondern die Frage ist, wie wird Protest gegen den Sozialstaatsabbau organisiert, wie wird in den vielen Insitutionen klargemacht, so geht's nicht weiter. Wie werden linke Gewerkschafter wieder gestärkt? Zusammengefaßt: Staat und staatliche Politik nicht unterschätzen, auch die Widersprüchlichkeit von staatlicher Politik, aber das Kleinteilige, das Alltägliche auch nicht unterschätzen, das ist ja mein Hauptargument mit der Würde und dem Rebellischsein. Damit werden wir wieder Subjekte. Wir werden nicht Subjekte, indem wir meinen: aber bei der nächsten Wahl, da wird's gerissen. Natürlich ist eine Wahl wichtig, aber da wird's eben nicht gerissen. Gesellschaft wird in den ganz vielen Praxen verändert. Damit stellt sich aber ein zentrales Problem für soziale, für globalisierungskritische Bewegungen heute: Ich zeige das immer ganz gern am Beispiel Italien.

In Italien gab es im vergangenen Jahr ich glaube fünf Streiks, wo eine Million Menschen auf die Straße gingen, und trotzdem geht die Berlusconi-Regierung munter nach rechts. Auch wir müssen uns dem Problem stellen: "Wie kann eine offensichtlich zunehmende soziale Bewegung überhaupt nicht mehr gehört werden? Warum gibt es kaum noch Verbindungen ins politisch- institutionelle System?" Das ist ein zentrales Problem. Und wird sollten nicht unterschätzen, daß es sich ein Schröder, ein Fischer leisten können, die Ohren zuzumachen, daß sie die eine Million-Demo vom 1. November in Berlin nicht zur Kenntnis nehmen. Das halte ich für ein zentrales Problem. Soviel also zu Politik und Staat.

IVb. Über die strategische Identitätspolitik.   INHALT

Der Begriff kommt ja aus der Frauenbewegung. Die sagen: die Identität, wir als Frauen, kämpfen gegen eine patriarchale Gesellschaft, gegen patriarchale Muster. Wir wissen natürlich, wir sind unterschiedlich, aber öffentlich treten wir auf als Frauen, weil es uns stärkt. Wir gehen mit der Identität "Frau" strategisch um. Und die Zapatistas gehen mit dem Label, mit der Identität "Indigene" an die Öffentlichkeit, wissend, daß es wahnsinnige Unterschiede gibt zwischen den Indigenen. Es gibt Indigene in New York, die aus Oaxaca migrieren, es gibt hocheffiziente Netzwerke, es gibt die Spaltung der indigenen Gemeinden, und sie gehen damit strategisch um, oder - das wäre jetzt die Frage- gehen sie vielleicht damit nicht genug strategisch um? Ist also das Label "Wir Indigene" von ihnen nicht mehr kritisch beherrschbar?

Die große Gefahr ist, daß sie den Stempel kriegen: ihr, EZLN, seid ganz toll, ihr in Chiapas, ihr verteidigt die Rechte der Indigenen, Punkt. Das ist die Gefahr. Das ist auch die Gefahr bei der Frauenbewegung, bei der Ökologiebewegung gewesen, "ihr seid die Anwälte, ihr sagt immer, wir auch noch", aber im Grunde genommen läuft die Politik weiter. Und die Zapatistas laufen Gefahr, auf den Platzhalter der Indigenen gedrängt zu werden, während ihr emanzipatives Projekt, ihr radikaldemokratisches Projekt delegitimiert wird. Man sagt: " Ihr seid die Sachwalter der indigenen Interessen".

Und wenn wir über Globalsierungskritik reden: Die Gefahr ist, daß die aktuellen Bewegungen in der Öffentlichkeit, vielleicht auch in den Parlamenten, reduziert werden auf "ihr seid immer zuständig, wenn es um das Schlechte in der Welt geht, ja, ja, auch die in China sind arm, wir versuchen, es zu lösen" Und Schröder fährt wieder nach China und macht die nächsten Wirtschaftsverträge. Und dann geht's auch um Menschenrechte und vielleicht auch irgendwann um die Arbeitsbedingungen. Die Gefahr ist, über das Label, über die Identität "Wir sind die Kritiker des Neoliberalismus" einen Platzhalter zu bekommen, der sagt "Ja, ja, wir sind alle schön zusammen", jetzt wieder in Indien, beim Weltsozialforum, in Paris, Europäisches Sozialforum, es soll glaube ich dieses Jahr ein deutsches Sozialforum geben, "Wir stehen alle zusammen, und wir sind die Sachwalter des Guten". Was ausgeblendet zu werden droht, ist, daß es natürlich innerhalb dieser Bewegung erhebliche Differenzen gibt, und zum Glück gibt's die.

Natürlich gibt es Teile der Bewegung, ich nenne mal Susan George als Beispiel, die wollen einen besseren Kapitalismus. Damit trete ich ihr nicht zu nahe, das sagt sie ja so, einen funktionierenden Kapitalismus, einen wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus. Und natürlich gibt es radikalere Teile, die mehr wollen, die Gesellschaft grundlegend verändern wollen. Das war ja eine Kritik an Paris, am europäischen Sozialforum, daß wir den Streit nicht fördern, es wird nie gestritten, es wird immer nur betont, es ist super, wir sind alle zusammen, und wir wollen die Welt verändern. Wie geht man mit dieser Ambivalenz um: daß uns das zwar natürlich öffentlich stark macht, dieses "wir stehen alle zusammen", daß aber die radikalen Anteile kalt gestellt werden.

Die Medien haben attac zu den Guten gemacht, zu den Good Guys , die den Finger immer erheben dürfen, wenn es um Globalisierungskritik geht. Aber wo sind die emanzipativen- wo sind die Lernprozesse? Wo sind die Differenzen? Wo sind die eigenen Ansprüche: "Eine andere Welt ist möglich"?

IVc. Die Frage nach den Alternativen.   INHALT

Bisher wurde gesagt, ihr lieben Globalisierungskritiker seid ja ganz toll im Kritisieren, ihr antiglobalisierungsbewegten Menschen, ihr Zapatistas - das wird natürlich hier nicht so geäußert- aber wo sind denn eure Alternativen? Und es gibt ja heftige Diskussionen innerhalb von attac, innerhalb von anderen Zusammenhängen, - die Gewerkschaften klinken sich da zunehmend ein, - man muß Alternativen entwickeln. Ja, natürlich muß man das.

Aber die Gefahr, die ich sehe - damit bin ich wieder bei der Ambivalenz - die Alternative kann nicht ein alternativer Masterplan der Gesellschaft sein. Wir sollten nicht in diese Falle gehen: Hier gibt's die neoliberale Vorstellung "die Gesellschaft ist der Markt und der Ordnungsstaat", und wir machen nun die Alternative (das heißt wahrscheinlich heute nicht mehr Sozialismus - ich weiß nicht, wie es heißt, es entwickelt sich ja gerade, "eine-andere-Welt-ist-möglich") und wir deklinieren sie durch, die alternative Weltwirtschaftsordnung, und dann wird sie nur noch umgesetzt. Also hier sind sozusagen die Massen, und die schaffen dann die alternative Weltwirtschaftsordnung. Diese Diskussion gibt es ja. Mein Appell aber, oder meine Überlegung wäre, dem sich erstmal zu verweigern und anzuerkennen: Es gibt ja ganz viele Alternativen. Menschen schaffen dauernd Alternativen aus ihren Lebensverhältnissen, ihren Lernprozessen heraus. Es entstehen grundlegende Alternativen hierzulande oder in Brasilien - die Bewegung der Landlosen - oder eben in Chiapas die Zapatistas. Der Vielfältigkeit von Alternativen, die vielleicht eine andere Gesellschaft möglich machen, der sollten wir uns nicht verschließen, indem wir so tun, als ob wir den alternativen Masterplan hätten.

Ausschnitte aus der Schlußdiskussion:   INHALT

Frage nach möglichen Akteuren einer Umgestaltung   INHALT

Eine andere Gesellschaft wird sich nicht mehr als Erfüllung eines Parteiprogramms entwickeln, und es ist auch nicht mehr die historische Situation, in der es ein Machtzentrum gibt - Zarismus - und von da aus wird Ökonomie und Politik und alles Mögliche zentral organisiert. Natürlich ist Gesellschaft heute vielfältig. Die Frage wäre, was entsteht eigentlich heute aus Unmut, aus Krisensituationen? - Stichwort Argentinien: da gab's ja nicht den Plan: "wir machen Tauschringe" - oder "wir besetzen mal die Betriebe". Aber heute sind hundertfünfzig Betriebe besetzt, was inzwischen ja von Kirchner, dem neuen Präsidenten, zunehmend legalisiert wird. - Es ist etwas sehr Wichtiges, daß da Leute sind, irgendwo im Inland oder in Buenos Aires, die sollen alle entlassen werden, und die Unternehmer verschwinden, und da sagen die:" Wie machen wir weiter?" In einer absoluten Krisensituation, das Management ist weg, "wie machen wir weiter? Wir besetzen den Betrieb. Wir produzieren weiter, Textilprodukte, Kacheln usw. Da mag sich etwas Neues entwickeln.- Nun sollte man das aber nicht hochpumpen zum alternativen Modell, sondern sagen: da gibt es Erfahrungen, die in einer konkreten Situation gemacht worden sind - Argentinien , der Neoliberalismus hatte da tabula rasa gemacht - und jetzt beginnt die Diskussion darüber, wie im kleinen Kern - natürlich gibt es weiterhin CocaCola und Adidas und die Global Players - wie im kleinen Kern Ökonomie anders organisiert werden kann, von Menschen.

Für hierzulande, wo es wahrscheinlich komplizierter ist, heißt das: Wie können Menschen, die keine Lust mehr haben, in Weltmarktfabriken hochproduktiv und vielleicht auch gut bezahlt zu arbeiten, oder auch gar keine Möglichkeit haben, zu arbeiten, wie können die die Ökonomie alternativ organisieren? Das mag dazu führen, daß wir vielleicht in fünf Jahren sagen: "Kollektive Ökonomie." Und wenn ich hier sagen würde, oder jemand anderes, in fünf Jahren: "Kollektive Ökonomie, wir wissen, das ist das und das und das," so wie man heute in Argentinien weiß, "besetzter Betrieb, das ist Zanòn, Bruckmann" und wie die Fabriken alle heißen. Das ist so ein Losgehen. Es ist noch nicht ganz klar, was es ist, es ist nur soviel klar, daß es gegen die Ökonomisierung, gegen die Unterwerfung unter das Profitprinzip geht, dieses "Ya basta", gegen "Ich werde betrogen, wenn ich in die private Rentenversicherung einbezahle, weil ich weiß, in den USA und in Großbritannien und vor allem in Chile geht das reihenweise den Bach runter". Diese Erfahrungen ernst zu nehmen und dann vielleicht etwas anderes zu formulieren, - und das Andere wird nicht abstrakt formuliert von mir oder von anderen, sondern da mag etwas aufgearbeitet werden mit dem Begriff von Walden Bello zum Beispiel, - "Deglobalisierung" - der sagt: Die Erfahrung der Südländer ist: Weltbankpolitiken, IWF-Politiken machen alternative Entwicklung unmöglich. Und es gibt ganz viele Kämpfe dagegen. Und ich als Bewegungsintellektueller arbeite nun diese realen Erfahrungen aus als Deglobalisierung. Also: Weg mit der WTO. Weg mit den internationalen neoliberalen Institutionen. Aber es setzt an an alternativen Erfahrungen. Das ist die Idee, oder das wäre eine Perspektive, zu sagen, wo entwickelt sich alternativ etwa, immer mit dem Problem, daß natürlich die andere Seite nicht so klar ist. Was ist heute eigentlich Universität, wem gehört sie? Die Studis sind ja da. Es ist ja nicht nur Koch, der die Universitäten besitzt in Hessen. Aber wie können vielleicht auch alternative Bildungspolitiken in Insitutionen wieder formuliert werden? In Schulen?- - - -

Die Frage nach Protest und "wie politisiert man überhaupt wieder Produktionsverhältnisse".   INHALT

Es gäbe, denke ich, schon Möglichkeiten, in dieser hochvernetzten Produktion, diese Vernetzung zu unterbrechen. Das heißt nicht, daß damit enteignet wird, sondern damit wird dann vielleicht an einem spezifischen Punkt die Kapitalmacht in Frage gestellt. Aus meiner Perspektive des "Preguntando caminamos" - in den achtziger Jahren ist das mal als "radikaler Reformismus" diskutiert worden, die Institutionen zu verändern, nicht den großen Wurf zu denken, - da würde ich schon sagen, das wären die ersten Schritte, Kapitalmacht symbolisch in Frage zu stellen.

Es ist, glaube ich in diesem Land, heute, außer in Alternativökonomie, schwer denkbar, die Kerne, die weltmarktorientierten Produktionskerne, ernsthaft in Frage zu stellen. Zur Zeit. Man weiß nicht, wie das wird. Aber , um einen zweiten Aspekt reinzubringen, es gibt ja einen theoretisch sehr avancierten Entwurf, wie damit umgegangen werden kann, nämlich von Michael Hardt und Toni Negri , die sagen: Der entscheidende Faktor der Produktion heutzutage ist nicht mehr der Besitz an Produktionsmitteln, sondern das, was sie die "immateriellen Arbeiter" nennen, die Menschen, die über die Computer, über die Technologie so stark mit den Techniken verbunden sind, daß sie selber Produktionsmittel sind. Die Nicht-Mehr-Ersetzbarkeit. Ich halte die These für nicht richtig ausgereift, aber es ist interessant, zu sagen, die Tatsache, daß das Wissen von Menschen so wichtig wird für Produktionsprozesse, bedeutet, daß sie nicht mehr einfach austauschbar sind. Das gibt den immateriellen Arbeitern und Arbeiterinnen - man kann spekulieren, wie viele das sind weltweit - das gibt ihnen eine wahnsinnige Macht, nämlich die, sich zu verweigern. Die Multitude kann sich verweigern. Das ist zum Beispiel eine Richtung, es gibt vielleicht noch andere.

In so eine Richtung zu denken, zumindest für ein Hochproduktivland wie Deutschland, - in China sieht's wahrscheinlich anders aus, wo die industrielle Reservearmee ja täglich um Tausende von Menschen anwächst,- vielleicht sollte man mal solche Gedanken weiterspinnen. Wie kann Kapitalmacht in einem so zentralen Bereich wie Ökonomie in Frage gestellt werden. Es geht, glaube ich, im ersten Schritt nicht darum, sich Produktionsmittel anzueignen. Da hat sich wirklich was verändert.

Frage zur Auslagerung von Arbeitsplätzen.   INHALT

Vor fünfzehn, zwanzig Jahren hat man in der Industriesoziologie gesagt: Die neue internationale Arbeitsteilung führt dazu, daß es einen zentralen Faktor gibt, nämlich den Lohn, die Lohnhöhe. Und damals war die zentrale Erfahrung , bestimmte Branchen, Textilindustrie, Stahlindustrie und andere gehen in die sogenannten Tiger-, Schwellenländer usw.

Aber irgendwie hat sich's ja nicht bestätigt. Zentrale Produktionsbereiche bleiben ja auch hier. München ist ja ein gutes Beispiel. als Hightech-Standort. Offensichtlich geht nicht die gesamte Produktion weg, offensichtlich verändert sich die Art der internationalen Arbeitsteilung. Bestimmte Produktionsschritte werden dann nach Tschechien oder China verlagert und andere nicht. Das ist ja das Argument der Apologeten des Neoliberalismus: Wenn die Grenzen fallen, dann sucht sich das Kapital München als Hochlohnland, wo die IT-Produktion ist und die Wissensproduktion und die Bildungsinstitutionen, und in Tschechien werden die Handys oder die Autos produziert.

Wenn wir da wieder auf den Punkt von vorhin kommen, was denn den Neoliberalismus so relativ stabil macht, so ist es doch genau das. Daß es in München ja nicht 80% Arbeitslosigkeit gibt. Wenn man also die These teilen würde, daß das Kapital nur da hingeht, wo am billigsten produziert wird, dann wäre München leer. Aber so ist es ja nicht. Offensichtlich gibt es in den Finanzinstitutionen, den Dienstleistungen bestimmte Funktionen, die in den Erstländern bleiben. Was ich mal etwas flapsig voraussage: In zehn Jahren, wenn der Bologna-Prozeß, also der Prozeß der Veränderung des Hochschulsystems abgeschlossen ist, wird ein Land wie Deutschland wahnsinnig viel Bildungsdienstleistung bereitstellen für andere Länder. Aber bezahlt. Also, die Leute aus Osteuropa kommen, kriegen hier eine Ausbildung- auf Englisch oder auch auf Deutsch - und bezahlen dafür. Und das wird ein wichtiger Standortfaktor.

Wie gehen wir politisch damit um? Will man denn, daß in Tschechien oder China so produziert wird? Und dann sind wir wieder bei der Frage: Wie sichtbar werden Produktionsprozesse?

Warum hat es eigentlich überhaupt keine Wirkung, wenn überall auf der Welt Millionen auf die Straße gehen, um gegen die Verhältnisse zu protestieren?   INHALT

Wenn ich das mal einfach deuten würde, nach dem alten Resonanzmodell - da gibt es Politik, und die Politik antwortet auf Wahlstimmen und antwortet auf Öffentlichkeit und sie antwortet über Ökonomie auf Konsummöglichkeiten. Wenn es eben Unternehmen nicht gut geht, dann spurt Schröder. Die Wirtschaft muß brummen, wie er immer so schön sagt. Das sind verschiedene Verhaltensmuster. Und offensichtlich hat sich das Modell: Protest schafft symbolisch einen Raum von Öffentlichkeit und kritisiert damit staatliche Politik oder andere Politik - dieses Modell hat sich erschöpft, zumindest sind bestimmte Kanäle da verstopfter als vorher. Hier vielleicht noch weniger.

Ich glaube, daß die eine Million in Berlin sehr wohl im Apparat Irritation gestiftet hat, die wirken vielleicht nach außen viel cooler als sie in Wirklichkeit sind, aber natürlich haben wir hier das aktuelle Problem, daß es eine rot-grüne Regierung ist, eine schwarz-gelbe könnte so nicht agieren. Wenn ich also noch einmal auf meine Metapher der Resonanzen gehe: Wie schaffen wir es, daß heute in wichtigen politischen Institutionen , die nicht rein staatlich sind und nicht rein profitorientiert, - damit denke ich jetzt an Medien, da denke ich auch an Gewerkschaften, an Bildungsinstitutionen, vielleicht noch an Betriebsräte, die ja oft genug die ganze Standortorientierung mitmachen, - wie schaffen wir es, als Bewegungen, als kritisch diskutierende Menschen, wieder Resonanzen in diese Institutionen zu erzeugen?

Diese Perspektive müßte wieder stärker werden. Ich glaube, daß wir immer noch sehr stark dem Protestmodell anhängen. Ich halte Protest für wichtig, keine Frage. Aber daß man nur mit dem nächsten Millionenprotest Schröder und Konsorten auf die Beine bringt, das ist, glaube ich etwas verkürzt. Wir müssen es schaffen, was mal eine wichtige These war, wieder kritische Menschen in den Institutionen zu ermuntern, kritisch zu handeln, nicht alles mitzumachen. Damit wäre vermittelt, auch auf staatliche Politik Einfluß zu nehmen. Ich weiß, daß das ein sehr schwaches Argument ist.

Aber nehmen wir mal die SPD-Linke. Die SPD-Linke ist auch deshalb so in der Defensive, weil Schröder sie wahnsinnig unter Druck setzen kann, und wo waren denn auch noch gesellschaftliche Bezüge? Wie kann man eine SPD-Linke wieder selbstbewußter machen? Sie ist es ja nicht, weil sie permanent unter Druck ist, und weil die alten Linken oft die schlimmsten sind, wenn sie erst einen Regierungsposten haben. Wie kann man linke Gewerkschafter wieder stärken innerhalb ihrer Gewerkschaften, sodaß sie eben nicht nur die Wettbewerbsorientierung mitmachen. Wie kann man altlinke Professoren, die resigniert haben - an den Unis ist es ja in der Alltagspraxis garnicht so eine Frage von Gegenkampf - sie haben resigniert. Wie kann man ihnen klarmachen, wenn sie aus der 68er Kultur kommen - "ach, die Studis wollen gar nichts mehr!" - doch, sie wollen, wenn man eine anständige Lehre macht. Wie kann man studentische Proteste politisieren, indem man Diskussionen an den Unis führt, usw. Also: Die Resonanzen in den Institutionen. Das finde ich eine wichtige Perspektive, die zur Zeit unterschätzt wird. Wir sind ein bißchen in der Emphase: "Ja, da bricht was auf, und der Spiegel berichtet darüber, und in der Tagesschau kommt mal jemand" - aber das ist es nicht.
 
 

   
 
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