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Spießerdämmerung.
Die Modernisierung des Spießers im Film.

Chaplins "Modern Times"; Fritz Langs "M", "Fellinis Schiff der Träume" und "Rain Man"

Ausschnitte aus dem Vortrag von Thomas Barfuss für Gegenentwurf, München, und den Kurt-Eisner-Verein für politische Bildung in Bayern

31.10.2003, EineWeltHaus, Schwanthalerstr. 80

Inhalt:
Babbitt: Ein neuer amerikanischer Spießer entsteht
Spießer und Intellektuelle in Europa
Spießer der Zukunft
Film 1: Modern Times: Die Entstehung des fordistischen Babbitts
Fordismus
Außen- und Innenperspektive Chaplins Inszenierung eines Spießers der Zukunft
Film 2: Die Liquidierung des Philisters in Langs M.
Die Implosion des deutschen Philisters
Zweiter Schwerpunkt: die 80er Jahre
Film 3: Fellinis E la nave va: Ein Requiem auf den Fordismus
Bilder der Distanznahme
Zögernder Kleinbürger
Film 4: Babbitt Revisited: Dustin Hoffmann als pathologischer Spießer in Rain Man
Rain Man als Wendemarke
Neue Formel
Ungleiche Brüder

Ich kann nicht behaupten, meine Damen und Herren, dass das Spießige mir selbst gänzlich fern liegt. (...) Und doch hoffe ich, dass die Schlaglichter auf die Modernisierung der Spießer im 20. Jahrhundert für Sie erhellend sein können, und vielleicht sind sie es ja gerade, weil der "Spießer, der nicht mehr Spießer sein will" gewiss ein aufmerksamer Analytiker des Spießertums werden kann, wo es ihm gelingt, die Enge gezielt und methodisch zu überschreiten. Aber wie kann das geschehen? (...) Ich will Ihnen, bevor wir die Filmausschnitte anschauen und diskutieren, jenen Spießerkritiker des 20. Jahrhunderts vorstellen, den ich für einen der kreativsten und interessantesten halte. Es ist Antonio Gramsci. Seine Überlegungen entzündeten sich am amerikanischen Spießerroman Babbitt. Ihn müssen wir deshalb einleitend kurz anschauen.

Babbitt: Ein neuer amerikanischer Spießer entsteht    INHALT

Sinclair Lewis’ zunächst und vor allem in den USA vielgeschmähter und gutverkaufter Roman erschien im Jahre 1922. Lewis knüpfte damit an seinen Erfolg mit Mainstreet (1920) an und karikierte das amerikanische Kleinbürgertum so treffend, dass der Name seiner Hauptfigur Eingang fand in die amerikanische Umgangssprache: Babbitt bezeichnete fortan in Amerika den neuen Spießertyp des aufkommenden Massenkonsum-Zeitalters. Der Babbitt aus Lewis’ Roman ist ein beschränkter und eingebildeter Häusermakler, der sich bemüht, sich klar abzusetzen von einer alten Spießergarde. Das führt so weit, dass er sogar einen Versuch macht, gänzlich aus der Enge seines Spießerhorizonts auszubrechen, was allerdings kläglich scheitert. Er eckt an bei seinen Gesinnungsfreunden und Geschäftspartnern und kann es nicht lange ertragen, allein zu stehen. Antonio Gramsci, der Lewis’ Buch im Gefängnis las (die Faschisten hatten den Mitbegründer der italienischen kommunistischen Partei und initiativen Gewerkschaftsführer unschädlich machen wollen und ab 1926 interniert und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt), betonte –- übrigens ähnlich wie in Deutschland Kurt Tucholsky –- dass "der Babbitt aus Lewis’ Roman [...] zu entkommen, nicht mehr Babbitt zu sein versucht" (Gefängnishefte, H6, §49). In dieser Handlungsführung erkannte Gramsci ein Element verstärkter "Selbstkritik" durch die Intellektuellen, das heißt zu einer den amerikanischen Kleinbürger historisch entwickelnden Kritik von innen: "Dass es in Amerika eine realistische Strömung gibt, die als Kritik der Lebensgewohnheiten ansetzt, ist eine sehr wichtige kulturelle Tatsache", so Gramsci: "Sie bedeutet, daß die Selbstkritik sich ausweitet, daß also eine neue amerikanische Zivilisation entsteht, die sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst ist: die Intellektuellen lösen sich von der herrschenden Klasse ab, um sich mit ihr intimer zu verbinden (H5, §105).

Spießer und Intellektuelle in Europa    INHALT

Diese Transformationskritik fand Gramsci in viel kleinerem Maß in Europa vor. Zwar gerieten auch hier die Arbeits- und Lebensweisen, die gesellschaftlichen Kräfteverhälntisse und die Ansichten und Mentalitäten durch den verstärkten Druck einer erneuerten Produktionsweisen in den USA unter Druck. Aber anstatt die überkommenen und veraltenden Produktionsverhältnisse mitsamt den dazugehörigen Haltungen und Mentalitäten der Kritik zu unterziehen, beschworen die Intellektuellen des Bürgertums in pauschaler Weise den Untergang des Abendlandes und der Zivilisation insgesamt: "Die alten intellektuellen und moralischen Führer der Gesellschaft spüren, wie ihnen der Boden unter den Füssen schwindet, sie merken, dass ihre ‚Predigten’ eben ‚Predigten’ geworden sind, das heißt relitätsfremde Dinge, bloße Form ohne Inhalt, Maske ohne Geist; Von daher ihre Hoffnungslosigkeit und ihre reaktionären und konservativen Tendenzen" (H7, §12). Dies auf Lewis’ Babbitt beziehend, hält Gramsci fest: "Die europäischen Intellektuellen [...] lachen über Babbitt, amüsieren sich über seine Mittelmäβigkeit, seine naive Dummheit, seine serielle Denkweise, seine standardisierte Mentalität. Sie stellen sich noch nicht einmal die Frage: Gibt es in Europa Babbitts?" (H5, §105)

Die Beobachtung, dass in Europa in den 20er Jahren auf seiten bürgerlicher Intellektueller eine apokalyptische Zivilisationskritik den Vorrang hatte vor einer entwickelnden Spießerkritik, ist gewiss richtig. Um ein Beispiel zu geben, das sich auch zeitlich gut mit Lewis’ Babbitt vergleichen lässt: Im Zauberberg (dessen Niederschrift in die Zeit von Lewis’ Babbitt-Erfolg fällt) setzt Thomas Mann dem "rücksichtslosen Bruch mit würdig Überliefertem", den sein Held nicht zu vollziehen braucht, weil er sich in die von Todesahnung und Untergangsstimmung erfüllte Davoser Sanatoriumswelt zurückzieht, zwei negativ gezeichnete Gegenfiguren der Modernisierung gegenüber, die er als "profane(...) Zerstörer alter Gebäude und landschaftlicher Schönheiten" charakterisiert: Sie sind "ungebunden wie ein Jude und pietätlos wie ein Amerikaner" (GWIII, 54f).

Spießer der Zukunft    INHALT

Gramsci indessen führt seinen Vergleich zwischen dem amerikanischen und europäischen Spießer folgendermaßen weiter: "Das Problem ist, daß es in Europa den standardisierten Kleinbürger gibt, aber statt national zu sein (und von einer groβen Nation wie den Vereinigten Staaten), ist seine Standardisierung regional und lokal. Die europäischen Babbitts sind von historisch niedrigerer Rangordnung als die amerikanischen Babbitts: sie sind eine nationale Schwäche, während der Amerikaner eine nationale Kraft ist, sie sind malerischer, aber dümmer und lächerlicher; ihr Konformismus dreht sich um einen verfaulten und schwächenden Aberglauben, während der Konformismus von Babbitt naiv und spontan ist, sich um einen kraftvollen und progressiven Aberglauben dreht" (ebd.). Dass Gramsci die Spießertypen und die jeweilige Spießerkritik mit der ökonomischen Entwicklung dessen zusammensieht, was er in den Gefängnisheften als "Fordismus" analysiert, macht eine wichtige Qualität seiner Analyse aus. (vgl. dazu Barfuss 2002) Allerdings ist seine Einschätzung, wonach es in Europa keine national standardisierten Spieβertypen gebe und auch keine entsprechende Spießerkritik, zu eng gefasst. (...)

Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang zum Beispiel auf den "Spießer der Zukunft", wie ihn in Deutschland Ödön von Horvath in seinem Erstlingsroman Der ewige Spießer (1930) zu fassen versucht. Horvath notiert sich dazu im Vorwort: "Der alte Typ des Spießers ist es nicht mehr wert, lächerlich gemacht zu werden"; den neuen Typus, der aber erst "im Werden" sei und sich "noch nicht herauskristallisiert" habe, deutet sein Roman schon einmal an in der Gestalt des kaltschnäuzig auf seinen materiellen Vorteil bedachten Kleinbürgers, der nicht mehr über einen bildungsbürgerlichen Hintergrund verfügt, sondern mit zusammenmontierten Phrasen aus Bildungsmüll und Zeitung rücksichtslos sein Fortkommen betreibt. Wer dagegen jenen anderen, den alten Spießer, so Horvath, "heute noch verhöhnt, ist bestenfalls ein Spießer der Zukunft".

Film 1
"Modern Times": Die Entstehung des fordistischen Babbitts
[Modern Times (Moderne Zeiten), USA (Chaplin/United Artists) entstanden 1935, UA 1936; mit C.Chaplin, Paulette Goddard u.a.]    INHALT

Als erstes möchte ich Ihnen nun den "Spießer der Zukunft" aus den 30er Jahren im Film vorstellen. Und zwar in einer amerikanischen Variante, in Charlie Chaplins Modern Times von 1936. Der Film führt den Kampf um die Durchsetzung der fordistischen Produktionsweise vor Augen. Der berühmte Anfang gibt einen Eindruck, was mit Fordismus als Produktionsweise gemeint ist. Chaplin zeigt zunächst eine Schafherde und überblendet sie mit einer Menschenmenge, es sind Arbeiter, die in eine Fabrik drängeln. Der Tramp, Chaplins berühmte Figur, ist zum Fließbandarbeiter geworden. Hier einige Stichworte zum Fordismus.

Fordismus    INHALT

Serielle Fließbandfertigung von Henry Ford seit 1913, Taylorisierung und Intensivierung der Arbeit, verbunden mit Wohn- und Lebensführungsprojekten (Fords "Social Department", das von den Arbeitern bald "Snooping Department" genannt wurde. Es wurde eingesetzt zur Modellierung der Kleinfamilie als Konsum- und Erholungsraum des Arbeiters, gegen Alkoholismus, gegen unmoralische und damit potenziell kraftvergeudende Lebensweisen wie Promiskuität etc.)

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde "Fordismus" ein auch in Europa von Unternehmer- und Arbeiterkreisen immer wieder aufgegriffenes Stichwort als Mittel zur Rationalisierung und Entschärfung des Klassenkonflikts.

Das entscheidende Problem, das die fordistische Produktionsweise in den 30er Jahren aufwarf, war (mit Gramsci formuliert): "Ob der für Ford spezifische Typus von Industrie und Produktions- und Arbeitsorganisation ‚rational’ ist, also verallgemeinert werden kann und soll, oder ob es sich statt dessen um ein krankhaftes Phänomen handelt, das mit der Macht der Gewerkschaften und mit der Gesetzgebung zu bekämpfen ist. Ob es also möglich ist, die Arbeiter als Masse mit dem materiellen Druck der Gesellschaft dahin zu bringen, den gesamten Transformationsprozess durchzumachen, der nötig ist, um zu erreichen, dass der Durchschnittstypus des Ford-Arbeiters zum Durchschnittstypus des modernen Arbeiters wird, oder ob dies unmöglich ist, weil es zur körperlichen Degeneration (...) führen würde, also den Arbeiter als solchen, jede gesellschaftliche Arbeitskraft zerstören würde." (H9,§72)

Außen- und Innenperspektive   INHALT

Chaplins Film greift diese Fragestellung auf, indem das Maschinenaggregat sich den zum Fabrikarbeiter gewordenen Tramp einverleibt und ihn in den Wahnsinn treibt, was in einen wilden Tanz und eine burleske Verfolgungsjags auf dem Fabrikgelände mündet. Dies führt nicht zuletzt die neue Verletzlichkeit der fordistischen Industrie vor Augen. –- Dass diese Stellen in unterhaltsamer Weise die wichtigsten Punkte der zeitgenössischen Kritik am Fordismus als Produktionsweise aufgreifen, ist oft gesehen worden; doch wird darüber in der Regel vergessen, was für unsere Thematik ebenso wichtig ist: Modern Times entwickelt, neben einer kritischen Außenperspektive auf den Fordismus, auch bereits erste Ansätze einer neuen Innenperspektive: nämlich den "Spiesser der Zukunft" und damit das Ende des chaplinesken Jedermanns, des Tramps und Außenseiters der 10er und 20er Jahre. Diese Figur des existenziellen Außenseiters (H.Mayer) hatte Chaplin in The Tramp (1915) entworfen und dann immer wieder verwendet, so in The Kid, The Circus, Gold Rush oder City Lights. Dagegen zeichnet sich in Modern Times bereits deutlich die Integrations-Perspektive des fordistischen Modells ab, wie es dann allerdings erst nach Krise und Weltkrieg für die industrialisierten Nationen verallgemeinert worden ist. (Dass Chaplin die Tramp-Figur 1940 für die Totalitarismussatire The Great Dictator noch einmal verwendet hat, hängt wohl unter anderem mit der physiognomischen Ähnlichkeit der Figur mit Hitler zusammen; doch ist der Tramp in diesem Film längst kein Außenseiter mehr, sondern wird im Gegenteil selbst als Keim einer neuen Integration vorgeführt mit seiner Rede an die Welt, welche die Grenzen der Figur deutlich sprengt.)

Chaplins Inszenierung eines Spießers der Zukunft    INHALT

Die Andeutung eines möglichen Übergangs vom existenziellen Außenseiter zu einem "Innenseiter" (eigenartig, dass dieses Wort im Deutschen fehlt (...) zeichnet sich ab in einer Sequenz, die Chaplin ganz dem "Spießer der Zukunft" widmet (Film).

Mit dem hungrigen Mädchen Range flieht der Tramp vor der Polizei in eine wohlhabende Wohgegend, wo die beiden den energetischen Aufbruch eines mittelständischen Angestellten beobachten. Die zwei beginnen von ihrem eigenen Eigenheim zu träumen, und der Tramp macht dies zu seinem Ziel, "selbst wenn ich dafür arbeiten muss" – doch schickt ein Polizist sie schließlich weg aus der Gegend, wo sie vorderhand nicht geduldet sind.

Augenfällig in dieser parodistischen Traumszene vom paradiesischen Eigenheim ist zunächst, dass der "neue Mensch", wie er immer wieder beschworen und entworfen wird, im Grunde ein umgewendeter Spiesser ist: Beides sind kulturelle Konstruktionen, Stereotype; der Spiesser deutet in die Vergangenheit, er ist die Konstruktion eines Jedermanns, der veraltet ist und unmöglich gemacht werden soll; der "neue Mensch" weist in die Zukunft. Er ist die Konstruktion eines Jedermanns, der erst als Versprechen existiert.

Um die Funktionsweise dieses Versprechens genauer zu verstehen, muss diese Sequenz im Kontext betrachtet werden:

  • Der Tramp als fordistischer Arbeiter
  • Der Warenberg, der wächst (die Warenhausszene)
  • Der Tramp und sein Mädchen in einer morschen Holzhütte, wo der Boden durchbricht und die Deckenbalken runterfallen.

Das ist die Realität der 30er Jahre: ein unsicheres Leben in Not und Krise für viele Menschen; daneben Rationalisierungsanstrengungen, die Durchsetzung einer produktivitätssteigernde Arbeitsmethode; und ein angehäufter Warenberg. -- Aber das alles passt noch nicht zusammen. Zusammengebracht wird es erst imaginär, vom "neuen Menschen". Dies unterstreicht noch einmal die Tatsache, dass der "Spießer der Zukunft" eben mehr ist als ein bloßes Traumbild, er ist ein uneingelöstes gesellschaftliches Versprechen. Chaplins Spießerszene trägt zwar noch paradiesische Züge, aber zugleich ist dieses Paradies schon deutlich lokalisierbar als fordistisches Kleinbürger-Paradies mit Eigenheim und Haushaltsmaschinen. Mit diesem Versprechen vor Augen wurden die Menschen von Außenseitern zu "Innenseitern", wurden sie in eine fordistische Ordnung integriert.

Das fordistische Versprechen    INHALT

Der Fordismus verlangte eine neue Disziplin; und er machte über viele Kanäle wie Reklame, Politik, Film etc. seine Versprechungen:

  • Soziale Sicherheit, Arbeit, Gesundheit
  • Massenkaufkraft und Anhebung des Lebensstandards auf das Niveau eines kleinbürgerlichen Konsummodells
  • Stabile, durch Moral kontrollierte kleinfamiliäre Verhältnisse
  • Zur Lebensweise gehört die neue fordistische Arbeitsweise: Disziplin, rationalisierter Arbeitsalltag,

Es gab natürlich durchaus auch Versuche, das nach dem Krieg verallgemeinerte fordistische Modell (das als Pakt zwischen Gewerkschaften, Unternehmerseite und Staat Gestalt annahm) abzulehnen. Doch waren die Kosten für Nicht-Privilegierte sehr hoch (Stigmatisierung, Marginalisierung, Psychiatrisierung, Kriminalisierung). Als intellektuelle Position wurde eine solche Ablehnung von der Frankfurter Schule ausgearbeitet: Mit seiner Rede von einem umfassenden "Verblendungszusammenhang" versuchte zum Beispiel Adorno, auch nach dem Krieg die Außenperspektive zu wahren. Bei Chaplin nimmt dagegen seit Modern Times eine innere Perspektive fordistischer Kritik Gestalt an. Sie besagt: Die Realität ist die, die Versprechungen sind jene. Kritisch sein heißt dann in diesem Zusammenhang darauf bestehen, dass diese Versprechungen für alle in der Gesellschaft gelten und erfüllt werden. Aus dieser inneren Perspektive wird es also in der Folge um Sozialstaat, Schutz vor Ausbeutung, gesellschaftliche Verteilung des Reichtums etc. gehen; und dafür ist der Tramp nicht mehr eine mögliche Jedermanns-Figur. -- Ein interessantes Beispiel im Umkreis solcher Überlegungen ist übrigens Chaplins erster Nachkriegsfilm Monsieur Verdoux (1947): Hier spielt Chaplin ein akzeptiertes und gewissenhaftes Mitglied des Gesellschaft, einen "Insider", der allerdings, um den Schein der erfolgreichen Integration aufrecht erhalten zu können, sich ein alter ego zulegen muss, das als Frauenmörder für die nötigen Mittel sorgt.

Film 2
Die Liquidierung des Philisters in Langs M.

[Fritz Lang, "M". Deutschland 1931, UA als "M. Dein Mörder sieht dich an"; später "M – Eine Stadt sucht einen Mörder", mit Peter Lorre als Mörder und Gustav Gründgens als Syndikatsboss]
   INHALT

Nach Langs Heroen- und Monumentalfilmen (Die Nibelungen 1923/4 und Metropolis 1926) ist M – der erste Tonfilm des Regisseurs - eine "Film-Reportage" in der Tradition der "Neuen Sachlichkeit". In den Eingangsszenen wird mit wenigen Bildern der Mord an einem Mädchen evoziert (Kinderspiel, wartende Mutter, Fahndungsplakat, Mann kauft Ballon und Konfekt, der Ball rollt aus einem Gebüsch, der Ballon fliegt fort). Die Mordserie wird zum Anlass, die Ermittlung des Kindermörders mit modernsten Fahndungsverfahren minutiös nachzuzeichnen. Dabei verzahnen sich der Beitrag von Polizei, Verbrechersyndikat und Massenmedien zu einem aggressiven Klima des allgegenwärtigen Verdachts: Jede kleinste Abweichung von einer rationalen, effizienten und damit als normal ausgewiesenen Lebensführung gerät unter Erklärungszwang. Das Verbrechersyndikat schaltet sich in die Ermittlungen ein, weil die dauernden Polizei-Razzien das Geschäft verderben. Die Presse wird sowohl von den Fahndern zur Ermittlung in der Bevölkerung benutzt wie vom Mörder, der ihr seine Bekennerschreiben zustellt. Schließlich sind es die Bettler, die den Mörder überführen. Die vereinigten Mörder, Gangster, Schieber, Zuhälter, Prostituierten und Betrüger fordern schließlich in einem Scherbengericht den Tod des Kindermörders, weil es sich um einen Triebtäter handelt, dessen Denken und Fühlen nicht rationalen Maßstäben gehorcht.

Die Implosion des deutschen Philisters   INHALT

Zwischen Verbrechen und Aufklärung schiebt Lang eine Sequenz ein, welche die Implosion der spießigen Innerlichkeit im entfesselten Klima autoritärer Normalität, effizienter Fahndungsmethoden und massenmedialer Appelle direkt vor Augen führt. (Film: Bierphilister am Stammtisch lesen die Zeitung und beschuldigen sich gegenseitig, der Mörder zu sein)

Unübersehbar geht es hier um jenen überkommenen deutschen Philistertypus, der seit der Romantik "Gemütlichkeit", "Seele" und "Innerlichkeit" als seine Rückzugsorte kultiviert hatte. Nehmen Sie das körperliche Erscheinungsbild der Herren, das weitab von stählerner Effizienz oder Sportlichkeit liegt. Oder nehmen Sie die völlig veralteten Tabakspfeifen. Es ist nun nicht so, dass an der Verunmöglichung und Diffamierung dieses abgewandten Spießers bloß von links gearbeitet worden wäre (wenngleich die Treffsicherheit und ästhetische Qualität der Spießerkarikatur von links sie zurecht zu einem Meilenstein moderner Kunst hat werden lassen; vgl. die bekannten Spießerkarikaturen von Georg Grosz aus den 20er Jahren oder Tucholskys Wendriner-Prosa). Mit andere Zielen und Mitteln gab es auch eine Spießeragitation von rechts. In einer nationalsozialistischen Quelle heißt es dazu, es gehe um die "Formung eines neuen Menschentyps, der in betontem Gegensatz steht zum Ideal des trinkfesten Burschen und Bierphilisters der Vergangenheit" (Wuttke-Groneberg, Medizin im NS; Nachweis in Barfuss 2002, 60).

Herbert Marcuse hat in einem Memorandum für den amerikanischen Geheimdienst von 1942 gezeigt, wie der NS auf eine Art selektiven Umbau des alten Philisters hinarbeitete: "Lauthals verkündete Vorhaben wie die Zerstörung der Familie und der bürgerlichen Ehe, oder der Angriff auf patriarchale Normen nutzen das latente ‚Unbehagen’ an der Ziviliation, den Protest gegen die Beschränkungen und Versagungen aus, die sie den Menschen auferlegt. Die Nationalsozialisten appellieren an das Recht der ‚Natur’, an die gesunden, jedoch verleumdeten Triebe des Menschen, betonen die Fragwürdigkeit seiner monadischen Existenz im Geldsystem, seine Sehnsucht nach einer wahren ‚Gemeinschaft’ in einer von Profit und Tausch beherrschten Welt. ... Gegen die seelenlose Mechanisierung beschwören sie die Seele, gegen die patriarchale Autorität den völkischen Zusammenhalt, gegen die Gemütlichkeit des ‚bürgerlichen Heims’ die frische Luft, gegen den blassen Intellekte den gestählten Körper" (Nachweise s. Barfuss 2002, 51f). Und Marcuses Fazit lautet: "Die nationalsozialistische Erziehung zu technologischer Rationalität und Effizienz hat die Denk- und Verhaltensmuster der Menschen in allen Bevölkerungsschichten viel grundlegender verändert als der so laut verkündete Bruch mit überkommenen Tabus. ‚Innerlichkeit’ und ‚Romantizismus’ (...) sind vom NS durch die politische Mobilisierung zerstört worden."

Diese für die späten 20er und frühen 30er Jahre in Deutschland charakteristische Zerstörung von Innerlichkeit und Romantizismus im Klima entfesselter Emotionalisierung und einer zur Übermacht gebündelten, partiellen Rationalisierung ist es, was sich sehr genau studieren und nachempfinden lässt in Fritz Langs M. Denn dort wird genau dies vorgeführt: Die Haltung und Mentalität des traditionellen deutschen Philisters löst sich auf im Säurebad der Diskurse eines ständig bohrenden Verdachts, eines gesteigerten gesellschaftlichen Legitimierungszwangs und einer permanenten Kontrolle des Subjekts durch den Staat und eine medial angeheizte öffentliche Meinung.

 

Zweiter Schwerpunkt des Abends: die 80er Jahre    INHALT

Die Veraltung des Spießers, wie wir sie bei Lang anfang 30er Jahre gesehen haben, wiederholt sich unter neuen Vorzeichen in den späten 60er und 70er Jahren: der "Wirtschaftswundermensch" (M.Frisch), der fordistische Jedermann der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte, wird nun plötzlich und nicht mehr nur in kleinen gesellschaftlichen Nischen, als Spießer karikiert und bekämpft. Anders gesagt: Um den fordistischen "Spießer der Zukunft" (wie ihn in den späten 20er und frühen 30er Jahren Gramsci, Horvath u.a. vorweggenommen haben), entbrennt ein Kampf, aus dem der fordistische Jedermann schließlich als "Spießer der Vergangenheit" hervorgehen wird. Einen fulminanten Auftakt zu dieser krisenhaften Umwälzung bildet der eskalierende Generationenkonflikt, doch sind Hippies und Bürger schließlich zusammen veraltet. Das ist auch nicht erstaunlich, denn ihr zugespitzter Gegensatz markiert das Ende des Entwicklungspotenzials des Gesellschafts-Modells, wie es als Verstetigung der fordistischen Produktionsweise seit Kriegsende errichtet worden ist (vgl. zu "Hippie" und Bürger Barfuss 2002, 153ff). Zusammen mit der ökonomischen Krise der 70er Jahre kommt es zu einer Orientierungskrise, und 1979 eröffnet Margaret Thatcher in Grossbritannien von der Regierungs-Spitze aus das Feuer auf das fordistische Arrangement zwischen Gewerkschaften, Unternehmern und Staat.

Ich möchte Ihnen zu diesem Kontext der 80er Jahre zwei Filmausschnitte zeigen. Diesmal werde ich mit einem europäischen Film beginnen. Nicht wahr, in Amerika war es ein Film wie Zemeckis Back to the Future (1984), der die kulturelle Orientierungslosigkeit und Ronald Reagans Regierungsprogramm ziemlich genau auf den Punkt brachte. In Italien machte Fellini mit E la Nave va etwa zur gleichen Zeit [1983] einen seiner schönsten Filme, ein Werk, das in gewohnt opulenter Weise aus der Sicht eines alternden Cineasten den Untergang einer Epoche inszeniert. Dass exakt heute Abend, am 31. Oktober 2003, Fellinis zehnter Todestag zu begehen ist, hat mir die Wahl für einmal leicht gemacht. Bitte kommen Sie also nun an Bord von "Fellinis Schiff der Träume".

 

Film 3
Fellinis E la nave va: Ein Requiem auf den Fordismus

[E la nave va (Fellinis Schiff der Träume). Italien/Frankreich (RAI/Vides/Gaumont/Antenne2) 1983. Regie: Federico Fellini; Drehbuch: Federico Fellini, Tonino Guerra; Kamera: Giuseppe Rotunno; mit: Freddie Jones u.a.]

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In diesem durch und durch artifiziell gestalteten Film wirkt nichts in herkömmlichen Sinn "echt" oder "realistisch". Die Handlung: 1914 sticht in Neapel der Luxusdampfer Gloria N. in See. An Bord eine berühmte Tote, die göttliche Operndiva Edmea Tetua, deren Asche bei der Isola d’ Egeo ins Meer gestreut werden soll. Die Menschen auf diesem Schiff, das sich unschwer als Gesellschaftsmetapher erschließt, sind zunächst und auf dem Prachtdeck eine grotesk überzeichnete Gruppe von Sängerinnen und Sängern, Dirigenten, Prinzen, vornehmen Damen, Opernliebhabern etc. Im Maschinenraum arbeiten schmutzige, schwitzende Arbeiter, die den Sängerinnen und Sängern bei den Spitzentönen, die den Maschinenlärm übertönen, manchmal zujubeln. Dazu stösst nach einer Zeit noch eine Gruppe zerlumpter serbischer Flüchtlinge, die sich auf dem Vordeck einrichten. Nicht zu vergessen schließlich, tief im Schiffsinnern, ein gefangenes, krankes Nashorn, das fürchterlich stinkt.

Durch all diese skurrilen Szenen führt ein "giornalista", der Berichterstatter Orlando. Gerade als die Asche ausgestreut wird, wirft einer der serbischen Flüchtlinge eine Bombe auf einen österreichischen Panzerkreuzer, der die Gloria N. mit ihren requiemsingenden Passagieren in der Folge unter Feuer nimmt und versenkt – eine assoziative Anspielung auf den Ausbruch des ersten Weltkriegs.

Bilder der Distanznahme    INHALT

Wenn wir jetzt den Schluss dieses Films anschauen, achten Sie darauf, wie Fellini Bilder herstellt für die Gesellschaft der 80er Jahre, Bilder, welche die gesellschaftlichen Konflikte suggestiv unterlegen und deuten. Die Geschichte um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist nämlich mehr Vorwand als Thema, um vorzuführen, wie eine Gegenwart zu sich selbst auf Distanz geht, sich in ihren kulturellen Bildern als "Welt von gestern" hervorbringt. Der Film ist eine wunderbare und in sich reflektierte Etüde zur Veraltung der Gesellschaft durch die kulturellen Intellektuellen. Immer wieder kommt die Kamera vor, die Perspektiven herstellt, welche eine dargestellte Welt fernrücken und verfremden; und gleichzeitig stellt sich der Künstler Fellini, der diese Verfremdung imaginiert, auch selbst als Teil dieser Welt von Gestern dar -- deshalb ist die Grundstimmung des Films elegisch und nostalgisch.

Zögernder Kleinbürger    INHALT

Tatsächlich lässt sich der gesellschaftliche Ort des Künstlers Fellini noch genauer bestimmen: Er ist offensichtlich weder Vertreter einer gesellschaftlichen Gruppe, die den Untergang dieser Welt betreibt und will; noch ist er andererseits gewillt, mit dieser alten Welt selbst unterzugehen, wie die Schlussszene zeigt: Begleitet von jenem riesenhaften und urtümlichen Nashorn rudert Orlando als alter ego des Regisseurs neuen Ufern entgegen. Wo immer mehr Einzelne sich in den 80er Jahren aus der fordistischen Ordnung und Konformität herauszulösen beginnen, beschwört Fellini die Welt als untergehende, für die er einen liebevollen und gebrochenen Blick zitiert und erfindet, während er den versprengten Einzelnen zugleich ein gestärktes Vertrauen in ihre Instinkte und Triebe mit auf den Weg gibt (er gibt ihnen, in seiner Bildsprache, das Nashorn mit ins Rettungsboot). E la nave va erschafft die Perspektive des zögernden Kleinbürgers für die 80er Jahre, der sich weinend von einer Welt löst, die ihn nicht mehr tragen kann; zu dessen historischer Erfahrung gehört es aber auch, dass man sinkende Schiffe rechtzeitig zu verlassen hat, um sich am neuen Ufer wiederum sicher einzurichten.

Film 4
Babbitt Revisited: Dustin Hoffmann als pathologischer Spießer in Rain Man

[Rain Man. USA (United Artists) 1988. Regie: Barry Levinson, Drehbuch: Barry Morrow, Ronald Bass; mit Tom Cruise und Dustin Hoffman]    INHALT

Der nächste Film markiert eine wichtige Veränderung im kulturellen Klima der 80er Jahre. Der Neoliberalismus hatte auf der Basis einer digitalisierten Produktionsweise neue, flexiblere Arbeits- und Lebensweisen propagiert, die allerdings unter den Vorzeichen neoliberaler Politik in ihren Vorteilen nur einer kleinen Zahl erfolgreicher Gesellschafts- und Berufsgruppen zugute kommen konnten, also etwa gut ausgebildeten Computerarbeitern, unabhängigen und flexiblen Yuppies, Jungmanagern etc. Diese Erfolgstypen wurden zwar mit viel öffentlichem Interesse bedacht und als Vorbild dargestellt, aber ihre Lebensweise liess sich nicht verallgemeinern. Gegen Ende der 80er Jahre setzen nun unübersehbar die Anstrengungen und Versuche von Künstlern und Intellektuellen ein, die fehlende Verallgemeinerungsfähigkeit des neoliberalen Modells und seiner Vorzeigehelden zu kritisieren. Es kommt mithin zu einer Situation, die vergleichbar ist mit jener in den 20er Jahren, als Gramsci festgestellt hatte: "die Intellektuellen lösen sich von der herrschenden Klasse ab, um sich mit ihr intimer zu verbinden." "Um sich mit ihr intimer zu verbinden" heißt in diesem Zusammenhang, dass sich die meisten Künstler und Intellektuellen in den USA Ende der 80er Jahre nicht grundsätzlich gegen die vom politischen Neoliberalismus lancierte Transformation der Gesellschaft stellen, sondern daran zu arbeiten beginnen, diese Transformation zu verallgemeinern. Sie lösen sich, heißt das, nicht vom Neoliberalismus ab, soweit es diesem weiter gelingt, sich als initiative Kraft der Transformation und Erneuerung darzustellen, sondern bloß von der ersten Garde der neoliberalen Dinosaurier (Thatcher, Reagan), deren polarisierender und verlustreicher Kurs kritisiert wird. Ziel dieser Kritik ist mithin die Verallgemeinerung der von den Dinosaurieren erst ansatzweise und zu offensichtlich vom nackten Unternehmerinteresse her angestossenen Transformation.

Rain Man als Wendemarke    INHALT

Ausgangspunkt von Gramscis Beobachtung zu ersten Anzeichen einer fordistischen Verallgemeinerung war seinerzeit der Erfolg von Lewis’ Babbitt gewesen; einen ähnlichen Wendepunkt stellt gegen Ende der 80er Jahre für die digitalisierte Produktionsweise der Erfolgsfilm Rain Man dar, der zum Kassenerfolg des Jahres und Oscar-Preisträger wurde. Dies ist die These, die wir am letzten Film des heutigen Abends nun überprüfen und diskutieren wollen. Allerdings ist dem beizufügen: Wenn wir hier einen Film als Anzeichen, ja als Wendemarke eines veränderten kulturellen Klimas auffassen, ist Vorsicht am Platz. Kulturelle Veränderungen sind in Wirklichkeit äußerst komplexe gesellschaftliche Phänomene. Ein kulturelles Klima kommt durch vielfache molekulare Prozesse zustande, gleichzeitig spielen mediale Verstärkungsprozesse sowie die artikulierten politischen Kräfte der Zeit eine wichtige Rolle. Einen Hollywwod-Film als Wendemarke zu bezeichnen, ist nun natürlich nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass diese kulturelle Veränderung dort ihren Ursprung gehabt hätte, keineswegs. Es heißt bloß, dass die entsprechenden Motive im Hollywood-Film kulturell mehrheitsfähig und erfolgreich ausbeutbar geworden sind. Hier laufen also eine Menge weniger gut sichtbare kulturelle Aktivitäten und Initiativen zusammen und münden in den sogenannten "Mainstream". Das passiert in unserem Fall 1988. Doch blenden wir zuerst etwas zurück.

Neue Formel    INHALT

Die 80er in Hollywood, das war ja eine Zeit nostalgischer Rückbesinnung auf die Trivialmuster der Unterhaltungsfilme der 50er Jahre. Amerikas real angeschlagene Größe wurde dabei von Science-Fiction Rittern und Comic Helden hochgehalten in der Star Wars Trilogie [1977, Folgefilme 1980 und 83] und v.a. in Spielbergs Indiana Jones Filmen [Indiana Jones and the Raiders of the Lost Ark 1981, Folgefilme 84 u 89]. Die Erfolgsformel für dieses Kino lautete, wie bereits erwähnt: Back to the Future. [Ronald Reagan hat sich ja bei all diesen Filmen kräfig bedient für seine Reden]

Rain Man macht nun eindeutig einen Schritt weiter. Er entwirft eine neue Formel für das Melodrama der 90er Jahre. Diese Formel lautet: Füge die auseinanderdriftenden Lebensweisen zu einer neuen, stabilen Konstellation zusammen. Hauptmotive aller Filme nach dieser Formel ist also die neue Verklammerung des auseinandergefallenen Jedermanns resp. der Jedefrau.

Ungleiche Brüder    INHALT

Schauen wir uns bei Rain Man an, was das genau heißt.

Der Film führt zwei ungleiche Brüder vor: Da ist zum einen Charlie Babbitt, Karrierist und rücksichtslos egoistischer Jungunternehmer, der mit Sportwagen handelt. Als sein Vater stirbt, kommt ihm das gerade recht, weil er in einem finanziellen Engpass steckt. Aber statt der erhofften 3 Mio. Dollar bekommt er einen Bruder, von dem er vorher nichts wusste. Es ist Raymond Babbitt, der "Rain Man" seiner Kindheit. Raymond ist ein Autist, der in einer Klinik exakt die Konformität der frühen 60er Jahre lebt, mit fixen Essens- und TV-Zeiten. Er ist der fordistische Jedermann nach seiner Veraltung, ein krankhafter Konformist, ein pathologischer Spießer. Der Spießer ist hier also ein Spießer der Vergangenheit, er hat all sein kulturelles Kapital längst verspielt und lebt voller Grillen und Ticks in einer Anstalt.

Wir schauen uns die beiden an auf dem Weg von Cincinnati nach California, wohin Charlie seinen Bruder entführen will, um doch noch an die 3 Mio Dollar zu kommen. Sie fahren im alten 49er Buick Roadmaster Convertible durch die USA der 80er, weil Raymond sich weigert zu fliegen.

Dabei kommt es zu einer burlesken Auseinandersetzung, weil Raymond zurück nach Cincinnati fahren will, um seine gewohnte Unterwäsche zu kaufen. Das ist zu viel für Charlie, der anhält und ihn anschreit: "Unterwäsche ist Unterwäsche, wo immer du sie kaufst!" Doch Raymond beharrt darauf: "Man muss im Einkaufszentrum kaufen" etc. (Film)

Die beiden Brüder offenbaren hier den Punkt, an dem die Modernisierungspolitik des Neoliberalismus Verstetigung und Flexibilität auseinandertreten lässt: Charlie hat sich den Imperativen ökonomischer Funktionalität so lückenlos angepasst, dass Fungibilität und Austauschbarkeit ihm noch die Erzählungen zersetzen, mit denen er in die Gesellschaft eingelassen ist: Sein Vater, seine Freundin, sein Bruder, alle sind zu austauschbarer Ware geworden. Raymond dagegen verkörpert den Gegenpol, die Fetischierung der Routine zur zweiten Natur. Noch die einstige Propaganda zur Einführung eines fordistischen Lebensstils - "Man muß im Einkaufszentrum kaufen" - hat sich bei ihm zum kategorischen resp. pathologischen Imperativ verfestigt.

Der Film führt in der Folge vor, wie der Manager Charlie Babbitt Gefühle entwickelt und sich um seinen behinderten Bruder zu kümmern beginnt. Der pathologische Konformist Raymond Babbitt wiederum macht zuletzt Witze über den Supermarkt in Cincinnatti und lässt sich von seinem Bruder einen portablen Fernseher kaufen, d.h. er wird seinerseits flexibler -- die beiden Brüder, so offensichtlich die Idee der Drehbuchschreiber -- entwickeln sich immer stärker aufeinander zu: Die auseinandergetretenen Brüder der neoliberalen Modernisierungspolitik sollen neu verklammert und damit "sozialverträglich" gemacht werden.

Oder, mit einem anderen Erfolgsfilm nach der Rain Man-Formel: Der mit allen Wassern gewaschene Abzocker-Manager lernt wieder Spontaneität, Gefühl und Vertrauen kennen, ausgerechnet bei einer Prostituierten, die er sich kauft - die aber natürlich eigentlich nicht eine Prositituierte ist, sondern ein sensibles Mädchen, das auf den Mann fürs Leben wartet. - Nicht wahr, so könnte man Pretty Woman (1990) zusammenfassen.

Oder in Deutschland bei Doris Dörrie: Der entlassene Fließbandarbeiter wird kurzerhand zum Chef der Fabrik, nur um seine Lebensstelle behalten zu können; und der flexible junge Hecht und die erfolgreiche Programmiererin heiraten, weil sie sich endlich auch irgendwo zuhause fühlen wollen. Die Spießer lernen von den Karrieristen, und die Karrieristen lernen von den Spießern, damit alle zugleich wieder erfolgreich und gemütlich sein können. Das ist in etwa die Handlung von Dörries Erzählung und Fernsehfilm Geld (BRD; ZDF 1989).

Das sind ja Märchen, gewiss. Aber wovon handeln denn diese Märchen von heute? Von Menschen, Kleinbürgern zumeist, welche zeitgemäss, erfolgreich und flexibel sein möchten im Beruf und zugleich wollen sie Bindungen eingehen, Vertrauen und Zugehörigkeit leben, Familien haben etc. Dafür müssen sie dauernd zwischen unvereinbaren Zeit-Logiken hin- und herwechseln, ohne dass die Politik ihnen dabei eine große Hilfe wäre. Dass bei all diesen Filmentwicklungen der Kitschverdacht nie fernliegt, hat damit zu tun, dass die Widersprüche, in denen sich die Figuren bewegen, nicht wirklich gelöst werden. Aber dass diese Art von Geschichten, die von der Notwendigkeit handelt, solche Widersprüche zu leben, plötzlich in den Mittelpunkt rückt, das kann als Wendemarke des kulturellen Klimas verstanden werden. Dabei ist interessant, dass diese Veränderung eintritt lange bevor die Sozialdemokratie in den 90ern mit ihrem Versprechen angetreten ist, den "Spieβer der Zukunft" hervorzubringen, d.h. den Neoliberalismus zu verallgemeinern. Dieses politische Projekt ist überhaupt erst denkbar in dem neuen kulturellen Klima. Doch davon vielleicht in der Diskussion mehr.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Anmerkung:

Nachweise, Präzisierungen und weiteres Material finden sich in: Thomas Barfuss, Konformität und bizarres Bewusstsein. Zur Verallgemeinerung und Veraltung von Lebensweisen in der Kultur des 20. Jahrhunderts. Hamburg ( Argument-Verlag) 2002

Kommentare an den Autor leiten wir gerne weiter.

 

   
 
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