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Der folgende Text war Grundlage eines vom Autor bei Gegenentwurf e.V. am 9.3.2004 gehaltenen Referates. Er wurde mit freundlicher Genehmigung dem Band 6.1 des "Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus", Argument Verlag, Hamburg 2004 entnommen.

Heimat

Die widersprüchlichen Reklamationen von Heimat zeigen, wie sehr der Begriff als umkämpfte Metapher, als "Rohstoff des Politischen" fungiert, bei dem das "Unabgegoltene ebenso wie das Überholte" (Negt/Kluge 1992, 64) eine Mischung eingehen, die den Begriff für Befreiungspolitik schwierig macht. Heimat ist wirksame ideologische Anrufung, ist verbunden mit Eigentum. Gerade darum ist sie auch für die Eigentumslosen ein Kampfplatz im Ringen, sich Welt anzueignen.

1. Im Althochdeutschen bedeutete "heimôti" oder "heimôdili" soviel wie Armut und Kleinod (Grimm 10, 864). Der seit dem 15. Jh. nachweisbare Begriff umfasst nach Grimm mehrere Bedeutungen: das sächliche "heimant" oder "haymat", welches mit "patria", dem Vaterland, gleichgesetzt wird, und das zur weiblichen Form sich entwickelnde "haimat" oder "heimet", das den "landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat" (865), anzeigt. In LUTHERS Bibelübersetzung wird in Gen 24.7 das hebräische "moledet" (Verwandtschaft) mit "heymat" wiedergegeben: "der HERR, der Gott des himels, der mich von meins vaters haus genommen hat, und von meiner heymat". Durch diese Übersetzung verschwindet allerdings die Schärfe des Auftrags Gottes, mit allen gegebenen sozialen Bindungen zu brechen und ein zukünftig besseres Leben zu suchen. Ähnlich depolitisierend - weil den Bezug auf das abgelehnte Römische Reich vermeidend - wird das griechische "politeuma" (Gemeinwesen/Staat) in Phil 3.20 als H wiedergegeben: "Unsere Heimat aber ist im Himmel". Die Hoffnung auf eine Heimat im Jenseits kommt aus der Hoffnungslosigkeit, im Diesseits keine gerechten und menschenwürdigen Verhältnisse schaffen zu können: So heißt es in einem nach dem Dreißigjährigen Krieg populär gewordenen Lied von Paul GERHARDT: "Ich bin ein Gast auf Erden [...]. Der Himmel soll mir werden / Das ist mein Vaterland./ Mein Heimat ist dort droben" (zit.n. Frahm 1990, 895).

2. MARX benutzt die Metapher des "zu Hause" an entscheidender Stelle bei der Analyse der entfremdeten Arbeit: "Der Arbeiter fühlt sich daher erst ausser der Arbeit bei sich und in der Arbeit ausser sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. [...] Es kömmt daher zu dem Resultat, daß der Mensch, (d Arbeiter) nur mehr in seinen thierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck, etc. sich als freithätig fühlt, und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Thier." (Ms 44, I.2/238f; 40/514f) Die Metapher soll die Selbstverwirklichung als Mensch artikulieren; das "Zuhause " ist dafür doppelt besetzt: als bloße Wohnstätte ist H zugleich Verkehrung, Mangel - die Perspektive der freien sinnvollen Tätigkeit zusammen mit anderen ist das eigentliche Zuhause. Das Bild zeigt Bewegung an; Heimat ist bloße Existenz und zu erkämpfendes Ziel in einem. Rada IVEKOVI (1984, 111) kritisiert die MARXsche Aussage als androzentrisch, indem sie einklagt, dass Frauen sehr wohl zu Hause arbeiteten; allerdings übersieht sie, dass nach seinem Verständnis auch Frauen in ihrer Arbeit "nicht zu Hause" wären. Es taugt daher nicht, feste Defi nitionen von Zuhause oder Heimat zu suchen. In diesem Sinne kritisieren MARX und ENGELS im Zirkular gegen Kriege (1846) die "Verwandlung des Kommunismus in Liebesduselei", bei der jedermann Gelegenheit erhalte, "'mit Hülfe seiner Hände eine unantastbare Heimat zu gründen'" (4/6), und der "'die trauten Gefühle des Familienlebens, der Heimatlichkeit, des Volkstums nicht zerstören', sondern 'nur erfüllen'" (7) wolle, statt alle Verhältnisse umzuwerfen, "in denen der Mensch ein erniedrigtes [...] Wesen ist" (KHR, 1/385). Gegen die politische Indienstnahme von Heimat in der Artikulation als Vaterland wenden MARX und ENGELS im Manifest ein: "Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben." (4/479) - Beiläufi g schneidet ENGELS Heimat als bornierte Provinzialität an, die der Entwicklung zum kapitalistischen Unternehmer weichen müsse, der sich der "jammervollen Manöver und Tricks [...], die in seiner Heimat für die Spitze aller Geschäftsklugheit galten", entledigen müsse (2/638).

3. Die Losung von den "Arbeitern ohne Vaterland" spielt in der Arbeiterbewegung des 19. Jh. eine große Rolle. Johann JACOBY, 1870 als Stimmführer der internationalen Demokraten gegen den Krieg verhaftet, bindet den Begriff Vaterland kritisch an die Aneignung von Heimat zurück: "die Welt: ubi bene, ibi patria - wo es uns wohlgeht, das heißt, wo wir Menschen sein können, ist unser Vaterland; Euer Vaterland ist für uns nur eine Stätte des Elends" (zit.n. Bausinger 1986, 98). Seit Ende des 19. Jh. gibt es in vielen europäischen Ländern Versuche, innerhalb des Kapitalismus alternative Formen der Arbeits- und Lebensweise auszuprobieren; als Unternehmenssektor mit nicht-kapitalistischem Eigentum entsteht in Deutschland der gewerkschaftliche Gemeinwirtschaftssektor, in dem es u.a. mit der Initiative "Neue Heimat" (Untergang 1987) 'reformsozialistisch' um die Schaffung eines menschenwürdigen Zuhauses in der bestehenden Gesellschaft ging. Auch die Projekte um Arbeiterkultur ringen mit dem Versuch, gegen die herrschende Kultur ein Zuhause als Gegenkultur zu schaffen. Die Zukunft in der Vergangenheit zu suchen - dieses Motiv, das in steter Gefahr ist, Rückschreiten zu empfehlen, wurde in seiner Dialektik von Ernst BLOCH für Befreiungsdenken erschlossen: als Beweggrund für den Umbau von Welt zur Heimat. Gegen einen "schwachsinnigen Optimismus" und eine Affirmation des Realen setzt er auf die hoffende "Erschaffung der Welt, als einer rechten", in welcher der "die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch" etwas entstehen lasse, "das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand zu Hause war: H" (PH, GA 5, 1628). Die Anti-Kriegsstimmung gegen die Opferung fürs Vaterland in der Arbeiterbewegung wurde von den Konservativen in das Schimpfwort der "vaterlandslosen Gesellen" (Kaiser Wilhelm) umgemünzt. Wilhelm Heinrich RIEHL etwa, zweimaliger Rektor der Universität München und einflussreicher Publizist in der zweiten Hälfte des 19. Jh., propagierte in seiner explizit gegen das Manifest gerichteten Invektive das Schlagwort von der Vaterlandslosigkeit der Proletarier, die nichts mit der ökonomischen Frage zu tun habe, sondern eine "sittliche" Angelegenheit sei: "Nicht in dem Verhältnis der Arbeit zum Kapital liegt für uns der Kern der sozialen Frage, sondern in dem Verhältnis der Sitte zur bürgerlichen Entfesselung. " (1851, 249) Die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten 1914 war Einwilligung in die Vaterlandsverteidigung; sie wurde mit der Bedrohung durch den russischen Zarismus begründet, schien jedoch v.a. "die Möglichkeit zu eröffnen, die [...] schon lange betonte nationale Loyalität unwiderlegbar unter Beweis zu stellen" (Kruse 1989, 119), um endlich Teil des Vaterlands werden zu können.

LENIN antwortete darauf mit dem Manifest Der Krieg und die russische Sozialdemokratie (1914), in dem er die Opportunisten anklagt, die "Grundwahrheit des Sozialismus, dass die Arbeiter kein Vaterland haben" (LW 21, 18), ignoriert und sich mit der deutschen Bourgeoisie vereint zu haben, welche die Arbeiterklasse betrüge, "indem sie behauptet, sie führe den Krieg, um die Heimat, die Freiheit und die Kultur zu verteidigen" (13).

Auch Rosa LUXEMBURG setzt den Internationalismus der Arbeiterklasse gegen die in der Sozialdemokratie aufkommende Propaganda der Vaterlandsverteidigung. In der Proletarierin, die in den Migrationsströmen der Welt mitgerissen wird, erscheint ihr die Vorkämpferin der neuen Gesellschaft. "Für die besitzende bürgerliche Frau ist ihr Haus ihre Welt. Für die Proletarierin ist die ganze Welt ihr Haus" (GW 3, 411). Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gilt die SU für die internationale Arbeiterbewegung als "sozialistische H", die gegen den Überfall der Faschisten zu verteidigen ist. Die auf tausenden von Plakaten zu lesende Berufung auf "Match rodina" - "Mutter Heimat" - sollte gegen die Vergewaltigung des Landes durch die Faschisten mobilisieren. In seiner ersten öffentlichen Verlautbarung nach Kriegsbeginn am 3. Juli 1941 appellierte STALIN an die "Genossen! Bürger! Brüder und Schwestern! [...] Der von Hitlerdeutschland am 22. Juni wortbrüchig begonnene militärische Überfall auf unsere Heimat dauert an." (5) "Die Völker der Sowjetunion sehen jetzt, dass der deutsche Faschismus in seiner Tollwut und seinem Hass gegen unsere Heimat, die allen Werktätigen freie Arbeit und Wohlstand gesichert hat, nicht zu bändigen ist." (11) Widerstand gegen den Faschismus kämpfte auch in Deutschland um Heimat gegen deren Beschlagnahmung.

Kurt TUCHOLSKY bringt Heimat (1929) sowohl gegen den Staat, der sich fortscheren solle, "wenn wir unsere Heimat lieben" (GW 7, 312), als auch gegen vaterländische und nationalistische Vereinnahmung in Stellung: "Es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen - weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifi sten, Freiheitsliebende aller Grade" (314). Heimat bietet sich als Inbegriff der Suche nach einem besseren Leben an, aber auch als stützende und fesselnde Vergangenheit, ein Grund, auf dem man geht, wie auch ein Ort, von dem man vertrieben ist. Auf diese Zwiespältigkeit will auch Jean AMÉRY hinaus: Wenn einer nur die Heimat kenne und sonst nichts, dann könne dies nur "zur Verödung und zum geistigen Verwelken im Provinzialismus führen [...]. Hat man aber keine Heimat, verfällt man der Ordnungslosigkeit, Verstörung, Zerfahrenheit. " (1966; W 2, 96) Heimat sei das Kindheits- und Jugendland der Vergangenheit, das für Vertrautheit und Sicherheit bürge, und "wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener" (98). Für die Jüngeren, denen die Zukunft gehöre, reklamiert er ein Recht darauf: "Es ist nicht gut, keine Heimat zu haben" (117). Das Motiv eines sehnsüchtig besetzten Ortes, um den zu kämpfen ist, klingt in den Liedern der Internationalen Brigaden im Spanienkrieg ebenso wieder wie in den Texten der Emigration.

Zwar entzieht BRECHT in den Flüchtlingsgesprächen der umstandslosen Vaterlandsliebe den Boden, tut dies jedoch mit den Worten der Kinderhymne: es geht darum, das Land lieben zu können, das Heimat wäre. "Die Vaterlandsliebe wird schon dadurch beeinträchtigt, dass man überhaupt keine richtige Auswahl hat. Das ist so, als wenn man die lieben soll, die man heiratet und nicht die heiratet, die man liebt" (GW 14, 1452). Und Erich FRIED schreibt in seinem 1946 im Londoner Exil verfassten Gedicht "H": "Land unter vielen Ländern / Land mit zerrissenen Schuhn, / Dich lieben heißt dich verändern, / Dich träumen heißt selten ruhn". In der späteren DDR galt die Heimat als schützens- und liebenswert, weil sie dem Volke gehöre. Die Kinder lernten das Pionierlied "Unsre H", in dem Natur besungen und zum Schutz von Heimat als Volkseigentum aufgerufen wird. Auch BRECHTS Kinderhymne drückt den Zusammenhang von verändern und lieben mit H aus: "Und weil wir dies Land verbessern /Lieben und beschirmen wir's" (GW 10, 978). Nicht anders spricht das von Hanns EISLER 1950 vertonte BECHER-Gedicht Deutschland: "Heimat, meine Trauer" (GW 6, 58).

4. Bei den konservativen und reaktionären Verfechtern des Heimatgedankens im 18. und 19. Jh. bestand, wie Hermann BAUSINGER feststellt, "seine politische Funktion [...] in seiner unpolitischen Ausrichtung" (1986, 97). Heimat wurde gepriesen als "schöne, unberührte, höchstens durch die sorgsame Pfl ege des Landmanns veredelte Natur, fern jedenfalls von all dem, was in den Sturmzeiten der Industrialisierung der Natur angetan wurde" (95). Die industrielle Zerstörung von Landschaft und Natur ließ zivilisationskritische und naturverbundene Bildungsbürger im Verein mit Haus- und Grundbesitzern die Sorge um H und Natur gegen Profi tgier und "Verschandelung" formulieren. Der Komponist und Musikprofessor Ernst RUDORFF gründete 1904 den "Bund Heimatschutz ", der sich für die Erhaltung der "Heiligtümer der Natur und der Geschichte" einsetzte - jedoch bei grundsätzlicher Zustimmung zum kapitalistischen Wirtschaften und damit ohne "eine konkrete Analyse der dem Industrialismus inhärenten Risiken, die sich auf die Umwelt hätten auswirken können" (Andersen 1991, 129). Dieser entfremdete Protest gegen Entfremdung richtete sich gegen Erscheinungen wie eine "naiv geschmacklose Touristenherde" (Alpers 1977, 14), "Toilettenkünste" und hässliche Fabrikbauten.

Rudorffs Warnung vor einer mit der Industrialisierung einhergehenden Landflucht von Knechten und Dienstmägden hing auch mit seiner Furcht zusammen, dass die "Vaterlandslosigkeit fast ausschließlich in den Fabrikbezirken großgezogen wird" (1897, 45). Forderungen der Heimatschutzbewegung wurden durch den preußischen Staat Anfang des 20. Jh. erfüllt, indem Verunstaltungsgesetze erlassen, Gefahren für Naturdenkmäler eruiert und das Fach Heimatkunde (1914) in die Lehrpläne aufgenommen wurden. Eduard SPRANGER entwarf nach dem Ersten Weltkrieg eine auf Heimat und "Volkstum" gestützte Pädagogik, die "H als geistiges Wurzelgefühl [und] erlebbare und erlebte Totalverbundenheit mit dem Boden" (zit.n. Günter/Wimmer 1987, 16) verklärt, in der die Subjekte, wie Otto Friedrich BOLLNOW vorschlägt, ihre "Verwurzelung in einem tragenden Ordnungssystem" (zit.n. ebd., 17) erleben sollen. Zur Stärkung dieser Form des Heimatbezugs wurden Musik- und Trachtenvereine propagiert.

5. Die Nazis standen den Heimatschützern aufgeschlossen gegenüber, weil diese ein Volkstum popularisiert hatten, das die Zugehörigkeit zu einer spezifischen, als gemeinschaftsbildend angenommenen und über den Klassen und Konfessionen stehenden Heimat zum Inhalt hatte. Begriffe wie Heimat und Volkstum waren funktional für die Integration und Identifikation der "Volksgenossen" und mehr noch für die Ausgrenzung "volksfremder" und "heimatloser" Bevölkerungsgruppen. Die ideologischen Grundpositionen beider Bewegungen wurden im Zweiten Weltkrieg wichtig: "Jetzt wurden die Mitglieder der Heimatbewegung zur Stärkung der 'Heimatfront' und zur ideologischen Unterstützung des Eroberungskrieges eingesetzt. Teils hielten sie Vorträge vor Soldaten an der Front [...], teils wurden sie dafür eingesetzt, siedlungswillige und -fähige Bauern für die 'Umsiedlung' nach Polen ausfindig zu machen" (Ditt 1990, 151). Faktisch allerdings schafften die Nazis bestehende Heimatrechte und die damit verbundenen Ansprüche auf Armenversorgung und Aufenthalt in der Heimatgemeinde durch die zweite Staatsangehörigkeitsverordnung von 1939 ab und verwandelten die heimatliche Etappe propagandistisch in eine "kämpfende H" bzw. Heimatfront.

6. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Heimat in Deutschland als Kampfbegriff des "Bundes der Vertriebenen " geführt, um den historischen Kontext der Umsiedlung deutscher Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten vergessen zu machen und gegen die im "Potsdamer Abkommen" festgelegte Nachkriegsordnung zu protestieren. Die jährlich gefeierten "Tage der H" der Vertriebenenverbände fungieren zum einen als Demonstration gegen die souveränen Staaten Osteuropas, denen die "Schuld" an der Umsiedlung gegeben wird, zum anderen als Treffpunkte alter und neuer Nazis zur Strategieplanung neofaschistischer Politikkonzepte (vgl. Salzborn 2000). Für die Entlastung von Tätern, Mitläufern und Nutznießern des deutschen Faschismus waren nach 1945 Heimatfilme ein wirksames Instrument, mit dem noch einmal die aus dem 19. Jh. herüberschillernden Werte des schönen, guten und bescheidenen Lebens außerhalb von Industrie und Profi t propagiert wurden.

W.G.SEBALD bezichtigt die beim Übergang zur hochtechnologischen Produktionsweise an die rechtspopulistische Verwendung von Heimat anküpfenden heimatverbundenen "Holzwegliteraten" und "Trachtler " eines Opportunismus, "der die Propagierung des Heimatbegriffs ohne weiteres mit der Zerstörung der H zu vereinbaren weiß" (1995, 167). Die Politik des Neoliberalismus würde unterschätzt, kritisierte man sie lediglich wegen ihrer Ideologisierung von Heimat als Hort des Natürlichen, Schönen und Traditionellen. Sie bezieht ihre Hegemonie nicht zuletzt aus der gelungenen Verschmelzung von Heimat mit den Anforderungen der hochtechnologischen Produktionsweise: "Laptop und Lederhose" ist die bayerische Metapher für eine erfolgreiche Strategie, Altes und Neues so zu verknüpfen, dass der Umgang mit hochmodernen Produktionsmitteln als Ressentiment gegen die Anforderungen neoliberal ausgerichteter Lebensweisen scheinbar widerständig gelebt werden kann.

7. Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Länder kündigte sich auch an durch die Absage an die Vorstellung, Sozialismus als Heimat zu denken. Wolfgang HILBIG erklärt, dass er sich nach dem Mauerbau 1961 in der vordem "als mein Zuhause, als mein Heim betrachteten" DDR nicht mehr beheimatet fühlte: "Man hatte mir mit [...] Waffengewalt eine Heimat verschafft, und man hatte mich nicht gefragt, ob ich diese Heimat haben wollte. [...] Wenn es ein Mittel gibt, in einem Menschen, in seinem Herzen, in seinem Kopf, ein so genanntes Heimatgefühl dauerhaft auszuschließen, dann ist es genau dieses Mittel staatlicher Gewalt" (2002, 44).

Aus der Befreiungsperspektive der subaltern gehaltenen Bevölkerung des 'Südens' nimmt dagegen Pablo NERUDA den Kampf um Heimat noch einmal auf: In seinem Gedicht Vaterland, dich wollen sie verteilen ist Heimat für die Besitzlosen symbolische und reale Erde: "Sie wollen mir die Heimat unter den Füßen fortnehmen [...] / Sie glauben, sie hätten dich schon tot / in Händen,/ gevierteilt, und in der Orgie ihrer schmutzigen Pläne / verbrauchen sie dich wie Eigentümer" (1984, 639). Für Oskar NEGT geht Heimatlosigkeit wie schon für MARX aus den Arbeitserfahrungen im Kapitalismus hervor. Die Menschen könnten in "ihren Alltagserfahrungen keine Ruhe des Wiedererkennens mehr finden, wenn ihnen [...] die gegenständliche Umwelt, mit der sie es zu tun haben, gleichgültig und austauschbar geworden ist" (1987, 13). Die Warenförmigkeit verunmöglicht, "sich lustvoll im eigenen Alltagszusammenhang zu betätigen", der Mensch "findet meist innerhalb der eigenen vier Wände nicht einmal mehr für Reparaturarbeiten zugängliche Objekte" (14). Gegen diese Enteignung und Entleerung der Subjekte und ihrer Gefühlswelt bedeute Heimat "Vertrautheit und Nähe der konkreten Lebensverhältnisse " (19). Der antagonistischen Reklamation von Heimat folgend kann er die politisch inflationäre Verwendung des Begriffs in Zusammenhang bringen mit der gewaltsamen "Vertreibung der Menschen aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen" (13) und der durch eine "zweite ursprüngliche Akkumulation" (17) erfolgten Enteignung der Menschen von ihren eigenen Produktivkräften, "die sie nur noch in der objektivierenden Gestalt von Maschinen, Apparaten wahrnehmen", ohne für das, was ihr subjektiver Anteil daran ist, ein Gefühl zu entwickeln (18). Die Zerstörung des Vertrauten werde so "ein fruchtbarer Boden für den Fremdenhass" (14).

Im Großen und Ganzen haben der Zusammenbruch des sozialistischen Projekts als eines praktischen Versuchs, Heimat aufzubauen, und die damit einhergehende Erstarkung eines konservativen Heimat-Diskurses jedoch dazu geführt, dass die Linke aufgehört hat, die Dialektik um Heimat auch nur zu denken. Zurück bleibt meist Abwehr. In Christian GEISSLERS politischem Roman kamalatta (1988) ringt der Hauptakteur mit der sich ihm darbietenden Unverfügbarkeit aller Heimat: "und wider sein hoffen hatte er ausentwickelt, heimat sei, was bleibt, also gibt es sie nicht, denn auch der baum fällt, das warme haus, die liebe, des flusses biegung, der ganze stern, auch ich selbst bin nur kurz unterwegs, danach die blöde vergrabung, heimat sei nur unser traum gegen das, was wirklich jeden tag ist, der verfall" (135).

8. Am Beispiel der Flüchtlinge und Arbeitsmigranten, aber auch an den 'Heimatschutzgesetzen' macht sich der klassenmäßige und repressive Sinn von Heimat geltend. Als "präzise rechtliche Bedeutung" des Heimatbegriffs nennt Rainer PIEPMEIER (1990) "das Eigentum an Haus, Grund und Boden" (95). Das Heimatrecht war in den meisten deutschen Staaten des 19. Jh. in Gemeinde-, Bürger- und Besitzrechten geregelt. Sie waren Voraussetzung für die Möglichkeit, ein bürgerliches Rechtssubjekt zu sein und gewährten die Befugnis, "in der Gemeinde sich häuslich niederzulassen und unter den gesetzlichen Bestimmungen sein Gewerbe zu treiben, sowie im Falle der Bedürftigkeit den Anspruch auf Unterstützung aus den örtlichen Kassen" (zit.n. Bausinger 1984, 12). Allerdings blendet die patriarchalische Begriffsgeschichte von H aus, dass für Frauen das H-Recht lange Zeit der männlichen Vermittlung bedurfte: "Haus und Hof, vom Vater auf den Sohn vererbt, die Koppelung von Grundeigentum, Aufenthaltsrecht, Wahlrecht, [...] all das bezieht Frauen ein als Teil des männlichen Besitztums und schließt sie aus als Individuen aus eigenem Recht." (BÜTFERING 1990, 416)

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 ist das Recht jedes Menschen zum Verlassen seines Staates und zur Rückkehr in ihn geschützt. In den einzelstaatlichen ausländerrechtlichen Regelungen gerade der hoch entwickelten Länder wird dieses Recht auf Heimat jedoch in einer Weise ausgelegt, die dazu dient, Fliehende, Wohnsitzlose und Wandernde gesellschaftlich auszuschließen. Ein Jahr nach der Zerstörung des World Trade Center stimmte das US-Repräsentantenhaus der Bildung eines von der Regierung George W. BUSH vorgeschlagenen "Department of Homeland Security" mit der Aufgabe des "Heimatschutzes" zu. Dabei handelt es sich um die größte Umstrukturierung der Bundesbehörden seit dem Zweiten Weltkrieg, die "die Überwachung von Personen aufgrund rassischer Merkmale" (FAZ, 22.6.2002) genauso erleichtern soll wie die "Überprüfung jeder Zahlung mit einer Kreditkarte, jedes Zeitschriftenabonnements und jedes Apothekenrezepts, jeder Webseite, die man besucht, und jeder verschickten oder empfangenen E-Mail, jedes akademischen Grads [...], jeder Bankeinzahlung, jeder Reisebuchung und jedes Ereignisses, das man besucht" (ND, 22.11.2002). H-Schutz ist zum Deckwort für die Verschärfung von Gesetzen und Maßnahmen zur inneren Sicherheit geworden, die den Umbau der USA zu einer imperialen Macht nach innen absichern sollen.

9. Der Heimatbegriff ist widersprüchlich wie die Verhältnisse selbst. Ob und wie Heimat als emanzipatorischer Begriff genutzt werden kann, der sich gegen "die gesellschaftlichen Ursachen für die stete Unerfülltheit " (GÜNTER/WIMMER 1987, 20) menschlichen Lebens in kapitalistischen Verhältnissen wendet, ist stets neu auszufechten; dabei wäre BLOCHS Aufforderung sich zueigen zu machen: "Die vergesellschaftete Menschheit im Bund mit einer ihr vermittelten Natur ist der Umbau der Welt zur H" (PH, 334), wie auch Max HORKHEIMERS Wunsch gälte: "Wird der Gedanke solcher Heimat einmal in die Herzen aufgenommen sein, dann könnte jene Solidarität" entstehen, die der menschlichen Situation gemäß ist, "dass alle [...] endliche, durch ein Ziel verbundene Wesen sind: das Leid zu bekämpfen, in Freiheit zu leben, die Wahrheit zu erkennen und nach Kräften zu verwirklichen" (GS 8, 322f).

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