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Wolfgang Fritz Haug

Weltkrieg gegen den Terror?

(Dies ist die ausgearbeitete Version des Vortrages, der mit Unterstützung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Stadtverband München, am 03.02.2002 im DGB Haus München stattfand. Der Text ist in "Das Argument", Nr. 244 erschienen. Die Wiedergabe erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Autors.)
 
ankuendigung haug
1. Unterm geistigen Kriegsrecht
2. Noch einmal zu Terror und Globalisierung
2.1 Zur Frage des Terrors

2.2 Globalisierung
3. Was ist anders seit dem 11. September?
4. Exemplarische Ruinen: Argentinien und Enron
5. Schluss, kein Ende
Literaturnachweise

Es mag wohl sein, dass der folgende Versuch, die Aktualität des global agierenden Terrorismus und die paradoxe Realität des Antiterrorkriegs mit ihren verborgenen Zielen zu denken, sich darin verfängt, dass "der Terror der Aktualität die Wirklichkeit missdeutet", wie Jean Améry im Vorwort zu einer Sammlung von Analysen, die er Jahre zuvor aus aktuellen Anlässen verfasst hatte, schreibt (1971, 14). Riskant ist dieses Unterfangen zumal in einer Zeit, in der sich die Ereignisse überstürzen in einem Horizont größter Ungewissheit. Da aber Handeln wie Denken in diese Wandlungen hineingezogen sind, ist es in einer Zeitschrift, die Schrift ihrer Zeit sein und vielleicht gar die Schrift an der Wand derselben lesen können möchte, unvermeidlich. Immer deutlicher wird, dass nicht das Entsetzliche des 11. September, "sondern die Reaktion darauf darüber entscheidet, ob und wie sich diese Welt verändert" (Daase 2002, 35). Dem Schock der Anschläge ging die wirtschaftliche Depression voraus. Die goldenen Jahre der Neuen Ökonomie unter Clinton waren vorbei. Die Bush-Regierung griff zurück auf Militärkeynesianismus. Aufs Ende des Booms folgten die Bomben.

Indem der Terrorakt zum Kriegsakt erklärt worden ist -- in Europa im metaphorischen, in den USA im wörtlichen Sinn --, sind die Würfel fürs Erste gefallen. "Dies ist der Vierte Weltkrieg", betitelte Eliot A. Cohen, Professor für Strategische Studien und Berater der US-Regierung, einen Artikel im Wall Street Journal (20.11.2001, zit.n. Mellenthin 2002). (1) "Der Vierte Weltkrieg hat schon begonnen", schrieb der Zapatistenführer Marcos bereits 1997. Was damals als problematische Metaphorik und "populistische Rhetorik" kritisiert werden konnte (vgl. Haug 1999, 81ff), scheint inzwischen ins Recht gesetzt zu werden. Es sei, schrieb Marcos damals, "ein wahrhaft planetarischer Krieg, der schlimmste und grausamste Krieg, und er wird vom Neoliberalismus gegen die ganze Menschheit geführt". Das meinte die militärisch gerahmte stumme Gewalt des entfesselten Marktes. Inzwischen bestimmt der militärische Rahmen die Situation der Welt. Zur Dialektik gehört noch immer, dass der "Krieg gegen die ganze Menschheit" zugleich Teil des Prozesses ist, in dem sich die Menschheit überhaupt erst "für sich" konstituieren könnte. Doch die absehbare Zukunft ist düster, der Weltkrieg gegen Unbekannt gespenstig. Er hat kein definiertes Ziel. "Es ist bis heute unklar, nach welchen Kriterien der Bündnisfall für beendet erklärt werden kann." (Vollmer 2002) Die USA mit ihren 50 Prozent aller Weltmilitärausgaben, "mindestens zehnmal so viel [...] wie alle erkennbaren Feind- und Gegnerstaaten zusammen" (Krippendorff 2002), können militärisch nicht gewinnen, die Terroristen nicht verlieren (Daase 2002, 47).

1. Unterm geistigen Kriegsrecht

Hermann Gremliza hat das konkret-Editorial vom November 2001 mit den Worten beschlossen: "Sollte es mir nicht gelungen sein, die Welt in die Guten und die Bösen zu sortieren, bitte ich um Nachsicht. Ich habe es nicht versucht." Auch ich werde das nicht versuchen. Schon deshalb nicht, weil wir viel zu wenig wissen. "Man weiß nicht wirklich, wer der Gegner ist. Die Person von Osama bin Laden erfüllt eher eine Stellvertreterfunktion." (Habermas 2002, 167f) Was Arundhati Roy am 24. September 2001 in New Delhi geschrieben hat, gilt ein knappes halbes Jahr später noch immer: "Erstens sollen wir glauben, dass der Feind der ist, der von der amerikanischen Regierung zum Feind deklariert worden ist, obwohl sie keine stichhaltigen Beweise vorlegen kann. Und zweitens sollen wir glauben, dass die Motive des Feindes genau so aussehen, wie sie von der Regierung dargestellt werden, obwohl es auch dafür keine Beweise gibt." (5) Glauben sollen wir, in den Worten Karsten D. Voigts, dass die Anschläge "sich gegen die USA als mächtigstes Symbol der demokratischen Wertegemeinschaft und damit auch gegen uns als Teil dieser Wertegemeinschaft" (2001, 651) gerichtet haben. Die Debatte, heißt es in Brechts Tui-Roman über solche Entnennungen ökonomischer Interessen, "fiel nie unter ein geistiges Niveau hinunter". -- Wer bei Sinnen ist, wird Misstrauen gegen alle offiziellen Verlautbarungen hegen. Der Dichter Volker Braun fühlt sich in dieser Hinsicht an die DDR erinnert. Als ich auf den Allerweltsbegriff "Information" schimpfte und die Ideologie der "Informationsgesellschaft kritisierte, missverstand er mich: "Es ist jetzt wieder so weit, dass man nichts mehr glauben kann." Die "Informationsgesellschaft" präsentiert sich als Desinformationsgesellschaft. (2)

An einem der blutigen Ereignisse des Afghanistan-Krieges hat das Santiago Carrillo gezeigt, der den Älteren noch als Sprecher des Eurokommunismus in Erinnerung ist. Er bemerkte, dass zwischen den Taliban und ihren afghanischen Gegnern offenkundig "sehr wenig" gekämpft worden ist. Weder Kabul noch Kandahar sind im Kampf erobert worden. Die USA haben gebombt, bis die Taliban zum Rückzug bereit waren. Dieser wurde auf afghanische Weise ausgehandelt. Die Taliban zogen mit Sack und Pack und Waffen ab. Die anders lautenden Befehle aus dem Pentagon wurden ignoriert. Nun eine der Ausnahmen. Es ist der angebliche Gefangenenaufstand von Mazar-i-Sharif, bei dem alle sechshundert Beteiligten getötet wurden. Carrillos einfache Überlegung, aus gesundem Misstrauen geboren: Als Gefangene wären die sechshundert entwaffnet gewesen. Alles spricht dafür, dass auch hier freier Abzug vereinbart worden war. In diesem Fall setzte ein CIA-Offizier, der dann auch getötet wurde, durch, dass die Soldaten der Nordallianz das Abkommen brachen. Als die Taliban dies merkten, zogen sie es vor, im Kampf zu sterben. Hieran zeigt sich, wie propagandistisch gefiltert die Nachrichten in diesem Krieg sind, wie wenig wir wissen über das, was in Afghanistan wirklich vorgefallen ist.

Nicht gut und böse muss man in solcher Situation zunächst auseinandersortieren, sondern Tatsachen, Lügen und Halbwahrheiten. Doch Misstrauen allein schützt vor Irrtum nicht, erst recht nicht vor Verfolgungswahn. Misstrauen kann sogar mit der größten Leichtgläubigkeit einhergehen. Wo gelogen wird, gedeiht das Gerücht. "Der jüdische Geheimdienst hat den Massenmord vom 11.9. verübt und den Verdacht auf die Araber gelenkt, um die Palästinenser besser unterdrücken zu können." "Die CIA steckt dahinter", sagen andere, "zumindest in der Form, dass sie die Attentäter hat gewähren lassen." "Die rechtsradikalen Fundamentalisten der USA waren es", heißt es von wiederum anderer Seite -- und in der Tat könnte einem, wie Norman Mailer gesagt hat, die Interessenlage den Schluss nahelegen, "dass dieser 11. September von der amerikanischen Rechten selbst gemacht worden ist" (zit.n. Krippendorff). In der Internetgemeinde kursierte sogar die Überzeugung, die Anschläge seien seit Jahren in Win-Word von Microsoft angekündigt, man müsse nur den Sonderzeichensatz Wingdings aufrufen usw. ... Auch ein Satz wie der von Jean Baudrillard: "Der immanente Irrsinn der Globalisierung bringt Wahnsinnige hervor", macht es sich zu leicht und biedert sich beim Alltagsverstand an.

Es mag ein schönes Gefühl sein, sich seine Vorurteile bestätigen zu lassen. Doch wir versagen uns diesen zweifelhaften Genuss. Analyse ist gefragt, vor allem aber Dialektik, versteht man darunter nicht eine Welterklärungsformel, sondern die Kunst, sich in Widersprüchen zu bewegen. (3) Die Schwierigkeiten beim Reden über die drôle de guerre (4) gegen den internationalen Terrorismus und den "Ausnahmezustand" zu besichtigen, den der US-Präsident "über die gesamte Weltgesellschaft verhängt" hat (Sigrist 2002), führt von der Seite ins Thema. Die Anschläge in historische Zusammenhänge einzubetten, gilt bereits als "Antiamerikanismus" (Le Carré 2001). Das beginnt bei der Erinnerung daran, dass die meisten Bösewichter des vergangenen Jahrzehnts Geschöpfe der US-Politik waren -- der "Teufel Hussein" nicht weniger als Noriega oder bin Laden. (5) Das Tabu dehnt sich selbst auf die Erinnerung an die zweifelhaften Umstände der Präsidentenwahl Ende 2000 aus. (6) Der in Princeton lehrende Historiker Arno Mayer registrierte die "enorme Angst, die einige meiner Kollegen ergriffen hat" (zit.n. Krippendorff, der weitere beängstigende Beispiele dieser Angst aufführt). Der 1905 geborene Biochemiker Erwin Chargaff, der seit 75 Jahren in den USA lebt, notiert, dass die dortige Veränderung seit dem 11. September "größer gewesen ist als je zuvor, und nichts davon zum Guten". Zumal die amtlichen Warnungen vor Bioterrorismus "haben viel dazu beigetragen, eine verstörte Öffentlichkeit zu erzeugen, wie sie nach meiner Erinnerung selbst im Zweiten Weltkrieg nicht existierte".

Vor allem in den USA und von ihnen ausstrahlend breitet politisches und geistiges Kriegsrecht sich aus. Die "öffentliche Meinung" ist bereit, Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit den Sicherheitsmaßnahmen zu opfern, sowie andere elementare Menschen- und Bürgerrechte einzuschränken oder für diffuse Verdachtsgruppen sogar schlechthin aufzuheben. (7) Panischer Konformismus breitet sich unter den Intellektuellen aus, wie zuletzt in der McCarthy-Ära. Die großen TV-Talkshows "haben alle dieselben Gäste, alle stellen dieselben Fragen, alle kommen zu denselben Ergebnissen", notiert einer der Herausgeber der Columbia Journalism Review (zit.n. Krippendorff). Der anscheinend leichte Sieg über die Taliban hat die Stimmung auf militärische Eskalation ausgerichtet. Kriegsrausch hat den Schrecken vom 11. September abgelöst. Das geistige Kriegsrecht blockiert die allgemeine Wahrnehmung dessen, was der Fall ist, und lähmt politische Rationalität. Denn eigentlich wäre ein großer gesellschaftlicher Ratschlag nötig, wenn die Spirale der Gewalt sich nicht, wie im israelisch-palestinensischen Konflikt, endlos weiterdrehen soll.

Wenn der amerikanische Präsident es zum Ziel der USA erklärt, "to bring justice to them", dann heißt "justice" hier nicht das Gegenteil von "injustice", nicht soziale Gerechtigkeit, sondern steht für Strafe, doch nicht im rechtsstaatlichen Sinn, sondern als diffuse Rache, kurz: für etwas, das Bush unsinnigerweise (8) aber machtpolitisch funktional (9) "Krieg" nennt. "Unser Land befindet sich im Krieg, die Wirtschaft in der Rezession, die zivilisierte Welt sieht sich beispiellosen Gefahren gegenüber", verkündete er in seiner State-of-the-Union-Rede, um in 1914-Rhetorik fortzufahren: "but we stand more united than ever", gefeiert von "stehenden Ovationen" der Abgeordneten beider Häuser.

Stellen wir in Gedanken eine kleine Ehrentafel auf für die beiden amerikanischen Politiker, die es wagten, sich dem panischen Konsensdruck zu entziehen. Das einzige Nein gegen die Entfesselung des Weltkriegs gegen Unbekannt kam von der "afro-amerikanischen" Kongress-Abgeordneten aus Kalifornien, Barbara Lee. (10) Und bei der alle parlamentarischen Gepflogenheiten übergehenden Durchpeitschung des "USA PATRIOT Act", der einer partiellen Selbstabschaffung der liberalen Demokratie gleichkommt (11), stimmte im Senat einzig der Demokrat Russell Feingold aus Wisconsin mit Nein. -- Die Abkürzung "USA PATRIOT Act" steht übrigens für "Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism".

Zensur und politisch-rechtliche Entliberalisierung bei Marktliberalisierung strahlen von den USA weltweit aus, auch auf Westeuropa. Hier scheinen die meisten Politiker und Kommentatoren "zwar irgendwie zu sehen, dass es eigentlich ganz schlimm ist, was sich da an amerikanischer Interessenpolitik unterm Vorwand der Terrorbekämpfung ungehindert über die Welt ausbreitet -- aber beim Namen nennen sie diese Gefahr auch nur in Sklavensprache" (Krippendorff). Sie lässt sich daran beobachten, wie Wolfgang Schäuble gleichsam mit geschlossenem Mund über "die derzeit einzige verbliebene Supermacht" und ihr rücksichsloses America first redet: "Allein gelassen würde sie wohl auch den Versuchungen von Überdruss und Übermut nicht auf Dauer widerstehen können." Zarter kann man den Anspruch auf Mitwirkung bei der Weltherrschaft kaum ausdrücken. (12)

Wenn man nun immer öfter lesen kann, die Globalisierungskritiker seien durch die Ereignisse seit dem 11.9. "in die Defensive geraten" (13), so sind damit zumeist ideologischer Konformitätsdruck und staatliche Repression gemeint. Gnade den politischen Gegnern, die den entgrenzten und mit rechtsfreien Räumen ausgestatteten Staatsgewalten der USA Anlass geben, sich ihrer anzunehmen! Doch von innen heraus wirkt bei Globalisierungskritikern ein anderes Motiv verunsichernd mit: Es war, als hätten die Mordanschläge vom 11.9. halbbewusste Wünsche erraten und auf teuflische Weise erfüllt. Nicht nur in muslimischen Ländern, auch im katholischen Lateinamerika, wo US-Politik oftmals in Gestalt vielfältigen Schreckens erfahren wird, gab es die finstere Genugtuung von Leuten, welche die Gewalt wie einen Bumerang endlich an ihren Ausgangsort zurückgekehrt sahen. Auch beschränkten sich solche Reaktionen nicht auf die von Verelendung und Rechtlosigkeit geschlagenen Weltteile. (14) Zumal der Angriff aufs verhasste Pentagon -- was hätten sich seinerzeit die Gegner des Vietnamkriegs, die nordamerikanischen an der Spitze, mehr gewünscht? Nach dem 11. September gingen gelegentlich Antiimperialismus und Antiamerikanismus, manchmal auch Antisemitismus ein trübes Gemisch ein. Gerade deshalb müssen die Trümmer von Ground zero Anlass sein, geheimen Wünschen auf den Grund zu gehen und zur Klärung der widerständigen Triebkräfte und Ziele beizutragen. Viele sind spontan doppelt gefangen: Zur Unklarheit ihrer Kritik fügt sich die von der Kulturindustrie gemodelte Schaulust, mit der die Zerstörung des WTC als vollendete Katastrophenästhetik wirkt. Beides, die klammheimliche Freude (15) und die korrupte Schaulust muss aus linker Mentalität "herausgewaschen" werden, wie es der alte Chargaff vom Geld gesagt hat. (16)

2. Noch einmal zu Terror (17) und Globalisierung

2.1 Zur Frage des Terrors

Hier können wir uns auf den konzisen und sachhaltigen Artikel von Albrecht Funk im Lexikon der internationalen Politik (Albrecht/Volger 1997) stützen. Die rund hundert Definitionen, die es geben soll, brauchen uns nicht zu beschäftigen, wenn wir den Blick auf das Konfliktfeld richten, dem die Phänomene wie die Bestimmungsversuche entspringen. Der Ursprung der Namensgebung, die terreur der Französischen Revolution, weist auf Staatsterrorismus. Doch da Staaten "generell, so repressiv und undemokratisch diese auch sein mögen, für sich in Anspruch [nehmen], die legitimen Instanzen für die Rechtsdurchsetzung mit dem Mittel physischer Gewalt zu sein", wenden sie ihre Definitionsmacht daran, individuellen oder gesellschaftlichen Widerstand zu "Terror" zu erklären. "In Wirklichkeit sind es jedoch zuallererst Staaten, die mit Hilfe ihrer Gewaltapparate die Zivilbevölkerung terrorisieren, paralegale Terrorgruppen finanzieren oder dulden (Todesschwadrone etc.) und terroristische Gruppen in anderen Staaten unterstützen." (Funk 1997, 484f) -- Unter der Präsidentschaft Reagans und Bushs propagierten v.a. die USA eine gemeinsame Antiterrorpolitik der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten. "Legitimiert als Versuch, universelle Normen [...] durchzusetzen, reduzierte sich diese Politik in der Praxis auf eine Unterstützung aller im Kampf gegen den Kommunismus vermeintlich hilfreichen Gruppen und Gewaltregime." Das Ende des Kalten Krieges brachte natürlich nicht das Ende terroristischer Gewaltakte. "Der Grund liegt jedoch weniger in der Bedrohung durch einen "islamischen Fundamentalismus", mit Hilfe dessen das alte Freund-Feind-Schema wiederhergestellt wird. Das Problem liegt vielmehr in der weitgehenden Unfähigkeit der westlichen Industriestaaten, auf die aus Ungleichheit, Armut und Unterdrückung erwachsende Gewalt mit mehr als einer "militaristischen Ordnungspolitik" (Falk 1995) zu reagieren. [...] Eine westliche Antiterrorismuspolitik stellt deshalb keine Alternative zum Versuch dar, Konfliktursachen auszuräumen und innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft nach tragfähigen Übereinkünften zu suchen, die gegen die Anwendung und Unterstützung von Gewalt gerichtet sind." (Funk 1997, 484f) Man sieht, dass sich, was Problematik und politische Ziele angeht, am 11. September nichts geändert hat.

Manchmal werden "Terroristen" mit "Partisanen" gleichgesetzt. Dabei wird ausgeblendet, dass der Partisan hinter der Front operiert und dass seine Anschläge militärischen Einrichtungen und Personen gelten; der "Terrorist" zielt auf die Zivilbevölkerung -- entweder diffus oder auf bestimmte Gruppen oder Schichten innerhalb derselben (18) --, um Chaos und Angst zu verbreiten. Freilich tat das auch die alliierte Kriegführung gegen Nazideutschland (Dresden, Hamburg, Stuttgart), wie es die Nazis zuvor in Guernica und später, mittels Raketen, in London praktiziert hatten. Vom Standpunkt der Staaten liegt es nahe, die "Nicht-Staatlichkeit" (vgl. Daase 2002, 37) von Gewaltakten zum Kriterium für das Vorliegen von Terror zu machen; der Terrorist isr dann ein Krieger ohne staatlich formalisierten Krieg. Der Bürgerkrieg, zumal der von außen genährte, stellt auch diese Bestimmung in Frage. Die von den USA mit Waffen versorgten und bezahlten Contras in Nicaragua töteten wahllos Bauern, die ihr Feld bestellten. Die ebenfalls von den USA großgezogenen und ausgerüsteten Mudschaheddin in Afghanistan schnitten den Schullehrern, in denen sie die Aufklärung personifiziert sahen, die Hälse durch.

Wenn die Definitionen unsicher sind und zu Scholastik führen, so lassen sich mit Gewissheit drei in unserem Zusammenhang wichtige Aspekte festhalten. Erstens: "Terror" fungiert als politische Delegitimierungskategorie; durch diesen Ausdruck sollen "Handlungen nicht nur als illegal, sondern auch als illegitim" gebrandmarkt werden (Daase 2002, 36). Zweitens: "Antiterrorpolitik" tendiert dazu, Politik gegen die Ursachen des Terrors zu verdrängen. Drittens: Es ist eine Frage der Standpunkte und der Kräfteverhältnisse, wer wen als "Terrorist" klassifizieren kann. Kräfteverhältnisse und Herrschaftsansprüche drücken sich darin aus, dass der Ausdruck "Terrorist" inzwischen ubiquitär geworden ist; in seiner vorherrschenden Verwendung passt er "tendenziell auf alle, die sich den herrschenden Verhältnissen nicht fügen wollen" (Hirsch 2001, 518). Der Unterschied zwischen "Freiheitskämpfern" und "Terroristen" oder der zwischen "Kollateralschäden" unter der Zivilbevölkerung und "Terrorismus" ist relativ, seine Fixierung eine Frage der Definitionsmacht (Candeias). Dieser Relativismus, der sich umgekehrt auch darin ausdrückt, dass für Noam Chomsky die USA "selbst ein führender Schurkenstaat" ist (2002, 27) oder dass der Historiker Arno Mayer die USA als Hauptmacht des "präventiven Staatsterrorismus" (19) (zit.n. Krippendorff) begreifen kann, ist einer der Sache selbst. Darum dreht sich ein Teil des Machtkampfs. Wir müssen den Relativismus nicht übernehmen. Wir können jede Gewalt gegen Bevölkerungen verurteilen, überhaupt jede unrechtmäßige Gewalt. Freilich ist auch das Recht schon wieder ein Ausdruck von Machtbeziehungen. Negativ zeigt sich das in der Blockierung des Internationalen Gerichtshofs oder der auf globale ökologische Regeln abzielenden Beschlüsse von Kyoto durch die USA. Doch auch unsere schwache Macht, Derrida würde sie mit Benjamin eine messianische Kraft nennen, geht mit ein in die Kräfteverhältnisse. Und revolutionäre Gewalt gegen Unterdrückungsinstitutionen kann nicht generell für illegitim erklärt werden. Sonst müssten wir Herkunft und Tradition unserer liberalen rechtsstaatlichen Demokratien verleugnen -- in Deutschland die 1848er Revolution, die Revolution von 1918, die gewaltsame Befreiung vom Nazismus 1945.

2.2 Globalisierung

Zu diesem komplexen Thema, das an anderer Stelle ausgeführt ist (Haug 1999, 17ff; 2001, 437ff), müssen Stichworte genügen. "Globalisierung" lässt sich als Deckwort verstehen: Zumeist wie ein Naturprozess geschildert, verbirgt sich darunter eine Politik, und zwar die des Neoliberalismus mit der trinitarischen Formel Deregulierung, Privatisierung, Freihandel. "Auf einmal", bemerkte Ralf Dahrendorf (2002), "musste die Globalisierung für alles herhalten -- für die Schließung von Postämtern auf dem Land, die Verminderung des Rettungsdienstes in großen Städten, für die Abschaffung der Preisbindung für Bücher und anderes mehr. Globalisierung wurde zum großen Alibi, meist für wachsende Gewinne bei schrumpfenden Dienstleistungen [...] eines zunehmend gewinnorientierten Kapitalismus, der die Fesseln korporatistischer Einbindung, langfristiger Verantwortung und sozialer Verpflichtung abgelegt hatte." Zum Drogen- und Menschenhandel (dessen Ausmaß "alle historischen Erfahrungen der Sklaverei weit überschreitet") "kam die Globalisierung des Terrorismus hinzu". Soweit Dahrendorf.

Der zapatistische Subcomandante Marcos umriss 1997 sieben Aspekte neoliberal betriebener Globalisierung: 1. Die Schere arm-reich öffnet sich immer weiter; 2. "arbeitskraftunabhängiges Wachstum" verbreitet Massenarbeitslosigkeit; 3. damit einher geht der "Alptraum Migration"; 4. organisiertes Verbrechen nistet sich global ein; 5. der Nationalstaat wird zum ""Sicherheits"-Apparat im Dienste der Megaunternehmen"; 6. die Vereinigung zu einem einzigen globalen Markt erzeugt neue Spaltungen, "multipliziert die Grenzen" und führt zur "Fragmentierung der Staaten", ablesbar am Schicksal der SU, Jugoslawiens und z.T. auch der CSSR, "wo die Krisen die gesellschaftlichen Grundlagen der Staaten und deren gesellschaftliche Strukturen vernichtet haben"; 7. im Gegenzug vervielfältigen sich die "Widerstandsnester in allen Größen, Farben und Formen".

Die Zähigkeit, mit der sich diese Politik ihren Folgen zum Trotz hält, erschließt sich jedoch erst, wenn man sie von der Produktionsweise her denkt. Sie betreibt den Übergang zur Hochtechnologie und den diesen entsprechenden transnationalen Produktionsverhältnissen. Dies ist der Boden des "arbeitskraftunabhängigen Wachstums", von dem Marcos spricht. Auf der Seite der Arbeit bedeutet es das Ende des fordistischen Massenarbeiters, "technologische Massenarbeitslosigkeit" und eine andere Zusammensetzung des Weltgesamtarbeiters. Produktive Arbeit kann dank der integrierten Rechen- und Kommunikationstechnologien in räumlicher Trennung von unmittelbarer Produktion geleistet werden. Diese arbeitsteilig und raumzeitlich ausgegliederten Tätigkeiten des produktiven Gesamtarbeiters (vgl. dazu Frigga Haug 2001) werden von einigen als "immaterielle Arbeit", von anderen als "Dienstleistungen" vorgestellt und in die Perspektive eines Übergangs zur "Dienstleistungsgesellschaft" gerückt, während die Verhältnisse in den von Fabrikarbeit evakuierten Zentren dessen, was man früher "Blaupausenproduktion" genannt hat, als "Ende der Arbeit" beredet werden. Auf der Seite des Kapitals hat, was als Entfesselung globaler Bewegungsfreiheit des Finanzkapitals begann, dank der Management-Produktivkräfte raum-zeitlicher Kompression, die transnationalen Konzerne zu den epochal dominanten ökonomischen Akteuren gemacht.

Die Welt des Fordismus war dagegen durch rationalisierte Massenarbeit am Fließband bestimmt; ihr Rahmen war der Nationalstaat, der einen keynesianischen Sozialkompromiss vermittelte -- die innere (Gewerkschaft-Kapital-Staat) und äußere (USA-Japan-Westeuropa) Trilaterale. Die Weltordnung war durch die Ost-West-Systemkonkurrenz gebändigt; im Schatten dieses Gegensatzes konnte sich eine Dritte Welt mit -- wie immer gestalteten -- nationalen Entwicklungsregimen relativ eigenständig halten. Nun schied die SU aus der Geschichte aus, weil ihre sicherheits-staatlichen, auf Zentralkontrolle basierenden Produktionsverhältnisse mit der durch den Computer geprägten dezentriert-interaktiven sozialen Welt unvereinbar waren. Damit fielen die nationalen Entwicklungsregimes. Seither dominiert alternativlos der transnationale High-Tech-Kapitalismus im Zeichen neoliberaler Globalisierung als Entgrenzung des Weltmarkts. "Man kann kaum umhin", schreibt Dahrendorf in der FAZ, "an die dramatische Analyse im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels zu erinnern."

Noam Chomsky bestreitet jeden Zusammenhang von Globalisierung und Terror. Die Verbitterung vieler Araber, "selbst pro-amerikanisch eingestellter Angehöriger der reicheren Schichten (20) [...] hat überhaupt nichts mit der sog. Globalisierung, MacDonalds oder Jeans zu tun" (2002, 20). Globalisierung scheint er als Verbreitung westlichen Lebensstandards zu fassen, wobei Ausbeutung und repressive Blockierung durch von den USA oder Westeuropäern gestützte reaktionäre Regime als Elemente erscheinen, die der eigentlichen Globalisierung fremd sind (was nicht völlig falsch ist, denkt man an Länder wie Südafrika, wo die Demokratisierung geradezu Bedingung der Globalisierung war). Von der neoliberal, im Interesse des Finanzkapitals und der transnationalen Konzerne betriebenen Globalisierung aber kann man mit Wolfdieter Narr dennoch sagen, dass sie "als dynamisch erneuernd fortgesetzte Struktur der Ungleichheit auf Weltebene die Aggressionspotenziale der Länder und Bevölkerungsteile im Wachstums- und Wohlstandsschatten" erzeugt (2001, 504), wie sie ja selbst in Südafrika die Demokratisierung durch Massenarbeitslosigkeit und Gewaltverhältnisse wieder auszuhöhlen droht.

3. Was ist anders seit dem 11. September?

Unverändert sind der Komplex, der sich unterm Deckwort Globalisierung verbirgt, und das unterm Begriff des Terrorismus zusammengebundene Feindbild. Beide Begriffe lügen vor wie nach dem 11. September, doch beiden eignet auch ein Moment von Wahrheit. Der ehemalige CIA-Chef Woolsey interpretiert die Situation seit dem 11. September nach dem Filmmuster von High Noon, wo Gary Cooper (als allegorisch für die USA stehender) Sheriff angesichts der Feigheit der Bürger (sie stehen für die Europäer (21)) den Gangstern allein entgegentritt. Dagegen gehört für uns die CIA mit ins Bild, und wir könnten sagen: Unverändert gibt der Film Brazil -- mit seiner Formel entpolitisierter Konsumismus + Telekratie + Staatsterror + Terror von unten -- ein gutes wenn auch grobes und überpointiertes Bild herrschender Tendenzen.

Dennoch hat ein Umschlag stattgefunden. "Was der Fall der Berliner Mauer für Osteuropa bedeutet hat", schrieb Dirk Schümer in der FAZ, "vollzog sich im Westen mit dem Crash der New Yorker Hochhaustürme." Das ist ein starkes Bild. Was ist damit gemeint? In der "Wolkenregion der Politik", wie Karl Marx in Anspielung auf den alten Aristophanes gesagt hat, hat sich ein Diskurswechsel vollzogen. Ignacio Ramonet (2002) fasst ihn so: Die Formel der Epoche zwischen dem Fall der Berliner Mauer und dem 11.9.01 -- wir könnten sagen: der Epoche des unmittelbaren Postkommunismus (nicht sein Wort) -- verband die Beschwörung der demokratischen Regierungsform mit dem Lob des Rechtsstaats und der Glorifizierung der Menschenrechte. Damit ist es nun vorbei: "Im Namen des "gerechten Krieges" gegen den Terrorismus sind diese schönen Ideen mit einem Mal vergessen." Die Grundwerte verlassen die Szene, die nun von Potentaten betreten wird, mit denen man sich bis gestern nicht sehen lassen konnte -- etwa dem Putschistengeneral Muscharraf oder dem usbekischen Diktator Karimow. Es ist das Ende des Versuchs, auf die Weltsozialprobleme politisch zu antworten. Aus dem "Krieg für Menschenrechte" ist der "Krieg gegen Terrorismus" geworden. Der Terror aber, sagt der Doyen der lateinamerikanischen Soziologen, Pablo Gonzalez Casanova, dient nun, wie zuvor der Drogenhandel, als neuer Hauptvorwand für den nunmehr weltweit geführten "Herrschaftskrieg".

Doch die Veränderungen gehen weit über einen bloßen Rechtfertigungswechsel hinaus. Zum einen folgte den Anschlägen vom 11. September "eine deutliche materielle politische Kehrtwendung" zur Verfolgung von "Kapitalinteressen" nach der Devise "America first" (Hirsch 2001, 515), als militärischer Hegemonismus ohne politische Hegemonie bei den Bevölkerungen außerhalb der USA und der an diese angelehnten Reichtumszonen. Gleichwohl hat die Erschütterung über den weltweit übers Fernsehen verfolgten Zerstörungsakt im Verein mit dem Drohpotenzial der militärisch-politischen Reaktion der USA einen Umschlag im Aggregatzustand der internationalen Politik bewirkt. Von der von den USA gebildeten "Allianz gegen den Terror" nur zu sagen, sie sei "noch breiter als zu Zeiten des Kalten Krieges" (Prokla-Redaktion 490), sieht am qualitativen Unterschied vorbei, dass die einstigen Kontrahenten, Russland und die Volksrepublik China, einen integralen Bestandteil bilden. Auch die fast grenzenlose Penetration der nationalen Geheimdienste der Welt durch den US-amerikanischen ist neu. Mit den Anschlägen vom 11. September war "überraschend eine Situation eingetreten, die [USA und Nato] blitzschnell und entschlossen zu intensivierter Fortsetzung der seit 1990 [...] anvisierten Politik und zur Überwindung der Widerstände dagegen zu nutzen verstanden." (Klein/Triebel 2002, 109f) Hier lässt sich sehen, was neu und was unverändert ist. Die Strategie war seit 1990 beschlossen, doch "fehlte der politische Wille sich durchzusetzen"; erst der 11. September "hat diesen Willen hervorgerufen", notiert der amerikanische Publizist William Pfaff. Er wirkte "als Katalysator, durch den die weitgehend fertigen Programme gegen den letzten innen- und außenpolitischen Widerstand durchgesetzt werden" konnten (Daase 2002, 43f).

Die Beobachtung von Klein/Triebel ist zu präzisieren, was die Nato betrifft: Auch wenn diese umgehend den Verteidigungsfall ausrief, führen die USA ihren "Krieg gegen den Terror" wie Gary Cooper in High Noon, ganz allein, zumindest was das Führen im hierarchischen Sinn angeht. Westeuropäische Vereinigung und Nato sahen sich, wie Dirk Schümer in der FAZ schrieb, "von der Wirklichkeit überrollt". Während der Luftkrieg gegen Jugoslawien von der Nato geführt worden ist, haben die USA diese jetzt beiseitegeschoben. "Erstaunlich, wie spur- und reibungslos dieser Verteidigungspakt sich nach dem 11. September quasi selbst aufgelöst hat, nicht unähnlich seinem Warschauer Zwillingsbruder nach 1989." Der Nato-Vertrag sei Makulatur, die EU auseinandergefallen, ihre Mitgliedsstaaten leisten "ohne Verankerung in ihren zwischenstaatlichen Entscheidungsgremien den Amerikanern Bundesgenossendienste" mit Großbritannien als "Mustersatellit der amerikanischen Weltmacht". Diese will "den Krieg souverän führen"(Schümer). Sie realisiert nun das bereits im Vietnamkrieg aufgetauchte Projekt des "electronic battle field": "Es besteht in der Verbindung satellitengesteuerter Aufklärungs- und Angriffstechnologien mit seegestützten Raketenangriffen und Flächenbombardements durch Fernbomber in Kombination mit smart-bombs und 'predators'. An Stelle großer eigener Bodenverbände werden Kommandogruppen eingesetzt, die dem Zugriff auf gegnerische Kräfte wie der Ortung von Angriffszielen für strategische Waffen dienen. Übrige terrestrische Aufgaben werden Vasallentruppen übertragen, deren Verluste kein Akzeptanzproblem in den USA darstellen." (Sigrist 2002)

Zielwahl und Zeitpunkt der Angriffe folgen dem Prinzip America first und im Blick auf Zugang zum Erdöl (vgl. Massarat 2002). Globalisierung erscheint folglich immer mehr als Amerikanisierung. Wenn Carrillo auf Europa hofft, so zerstört Schümer diese Hoffnung: "Für das Europa der Zwerge ist in der neuen Weltordnung der Pax Americana die Rolle der Diadochenstaaten (22) vorgesehen: Sie dürfen ganz gute Geschäfte auf eigene Rechnung machen und neben dem expandierenden Rom eine Zeitlang die Fiktion einer eigenständigen Kultur hegen. Doch über ihr Schicksal entschieden wird anderswo." -- Unklar ist, was daran Beschreibung und was Aufrüttelung zum Gegenteil sein soll. Auf die politische Konsequenz, die der FAZ-Autor nahelegen möchte, deutet am ehesten seine These von der "Wiederauferstehung des Nationalstaats".

Dass er sich damit irrt, zeigt der Politologe Karl Otto Hondrich. Mit grimmigem Einverständnis notiert er, dass die Anschläge vom 11.9. auch die offizielle "Schönwettermoral" des Westens in die Luft gesprengt haben. "In der Stunde der Gefahr aber brechen sich die soziomoralischen Grundgesetze Bahn, die der Westen mit anderen Kulturen teilt [...]: die Prinzipien der Reziprozität, der Präferenz für die eigene Kultur, der kollektiven Solidarität mit Seinesgleichen". -- Die soziologische Distanzsprache darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies die globale Ausbreitung der "Zahn um Zahn"-Logik legitimiert, die Carrillo registriert. Auf gleiche Weise ließen sich die ethnischen Säuberungskriege auf dem Balkan rechtfertigen.

Der Nationalstaat, bei Schümer soeben wiederauferstanden, sieht sich bei Hondrich in quasi feudale Gefolgschaftspflicht genommen. Wer nicht für uns ist, ist wider uns, skandierte Präsident Bush. Die Führungs- und Ordnungsmacht USA fordert gebieterisch "die Wiederherstellung der Weltordnung durch Loyalität" mit ihr. Hondrich bringt den realexistierenden Zynismus der Situation auf die Formel:

"Jedenfalls besorgt der "Krieg gegen den Terrorismus" der Welt das, was ihr bisher zu ihrer Einheit gefehlt hat: den gemeinsamen Feind. Die phantastischen Ufos, das Ozonloch, die Drogenmafia, nicht einmal die Atombombe haben diese Funktion bisher erfüllen können. Nun nimmt sie persönliche Konturen an: In der Gestalt eines sanftmütig blickenden biblischen Höhlenmenschen, der -- fast -- alle Mächte der Welt gegen sich mobilisiert."

Während Christian Sigrist meint, an der Tatsache, dass bin Laden nicht gefangen oder getötet werden konnte, werde "die Fragwürdigkeit des Überlegenheitsanspruchs, der auf der Entwicklung von Hochtechnologien basiert, evident", schreibt Hondrich dem US-Verteidigungsminister zu, darauf zu hoffen, dass dies so bleibt. Das ist gewiss zynisch, doch jedenfalls nicht illusionär.

Ist es nicht, als hätte die US-Regierung es darauf angelegt, Michael Hardt und Tonio Negri zu widerlegen, die in Empire emphatisch erklären: "The United States does not [...] form the center of an imperialist project. Imperialism is over." Etwa: "Die USA bilden nicht [...] das Zentrum eines imperialistischen Projekts. Der Imperialismus ist vorbei." (2000, XIIIf) (23) Geschichtlich mag sich dies eines Tages bewahrheiten, doch die Reaktion auf den 11. September geht in die entgegengesetzte Richtung. Huntingtons These eines "uni-multipolarsystem with one superpower and several major powers" (1999, 36; zit.n. Young/Hegelich 2001, 525) scheint realistischer. Doch zumindest für den geschichtlichen Moment ist der Multilateralismus zurückgedrängt. Joachim Hirsch sieht eine "Internationalisierung des Staates" und beschreibt die Weltordnung nach dem 11. September als ein "nun fast weltumfassendes "Empire" [...], das durch die USA in Verbindung mit den ihnen untergeordneten kapitalistischen Triadezentren wirtschaftlich und militärisch beherrscht wird" (2001, 512). Im Gegensatz zu dem von Hardt und Negri gezeichneten Bild ist dieses System keineswegs "ein diffuses politisch-ökonomisches Netzwerk ohne definierbares Machtzentrum" (Hirsch 2001, 513). "Statt über ein [...] "Empire" zu spekulieren, sollte also besser von einer grundlegenden Neustrukturierung imperialistischer Herrschaftsverhältnisse geredet werden, in denen die konkurrierenden Staaten als Gewaltapparate eine entscheidende Rolle spielen." (Ebd., 516) Hirsch sieht die Quelle der Instabilität dieser momentanen Weltordnung in dem Widerspruch, dass die USA zwar "eine bisher beispiellose ökonomische und militärische Dominanzposition" haben, diese aber "nicht zur Grundlage einer neuen hegemonialen Ordnung" geworden (514) ist. Er unterscheidet die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus von politischer Hegemonie, die auf Konsens basiert. "Und genau an dieser Eigenschaft mangelt es der bestehenden "Weltordnung"." (Ebd.) Mehr noch: "Die Deregulierungs- und Globalisierungspolitik, mit der die USA ihre ökonomische Dominanz wiedererringen konnten, bedeutet zugleich den programmatischen Verzicht auf eine politische Gestaltung und soziale Integration der "Welt"-Gesellschaft." (Ebd.) Dies hält Hirsch für den Grundwiderspruch des neoliberalen Projekts. Er hält es deshalb für möglich, dass die Anschläge vom 11. September "das frühe Ende des neoliberal-postfordistischen Kapitalismus und damit des zweiten "amerikanischen Zeitalters" nach der fordistischen Nachkriegsära bedeuten" (518). Diese Auffassung scheint so lange plausibel, als der unter neoliberaler Ägide vollzogene Übergang zur hochtechnologischen Produktionsweise ausgeblendet wird, wie in der Regulationsschule vielfach üblich, wobei übersehen wird, dass der Neoliberalismus sein Hegemonie entscheidend dem Management dieses Übergangs verdankt (zur Kritik vgl. Haug 2001b). -- Im Gegensatz zu Hirsch meint Trevor Evans, die Anschläge hätten es "den USA ermöglicht, ihre Globalisierungsstrategie voranzubringen" (2001, 632). (24) Mario Candeias hält dafür, dass "die militärische Regulation des Weltmarkts ein integraler Teil des neoliberalen Konsenses" ist. Selbst die finanziellen Schwankungen und Krisen erscheinen ihm funktional im Sinne des Neoliberalismus, wenn sie, wie in Südkorea, dazu beitragen, eine geschlossene Wirtschaft aufzusprengen.

4. Exemplarische Ruinen: Argentinien und Enron

Der Schrecken, den der losgelassene Weltmarkt entbirgt, hat viele Gesichter. Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger für Ökonomie und früherer Chefökonom der Weltbank, sieht die IWF-Politik gescheitert (25): Für fast alle Entwicklungsländer haben sich im letzten Jahrzehnt nach der "Anwendung verordneter Liberalisierungsprogramme" die Preisverhältnisse von Import und Export ("terms of trade") und die Gesamtlage verschlechtert. Die Kluft zwischen den reichen und den armen Ländern hat sich vergrößert. "Eine zu rasche Privatisierung in Kombination mit einer Liberalisierung des Kapitalmarktes bereite gleichsam den Nährboden wirtschaftlicher Katastrophen." Das belegen die Finanzkrisen (ca. hundert in den letzen 25 Jahren -- Südostasien, Russland, Argentinien sind nur die aktuellsten Fälle). Einziges Gegenbeispiel ist China, wo es gelungen ist, "Einkommen und ausländische Beteiligung nachhaltig zu erhöhen, ohne sich die Bedingungen diktieren zu lassen". Den "neoliberalen Musterschüler Argentinien" (Boris/Malch 2001, 47) dagegen haben die "marktradikalen", Privatisierung, Beseitigung der Einfuhrschranken und Inflationsverhinderung verschreibenden Rezepte des IWF, die kaum ein anderes lateinamerikanisches Land "so peinlich genau befolgt hat" (ebd.), in den Ruin und an den Rand der Revolution geführt. (26) "Die Angst derer, die von ihrem Gehalt leben, von einer kümmerlichen Rente oder vom Ertrag einiger Ersparnisse, über die sie nicht völlig verfügen können; die Angst der Geschäftsleute und Kleinunternehmer, die sich dazu verurteilt fühlen, sich zu ruinieren oder Bankrott anzumelden, wenn noch ein paar Tage lang niemand kauft; die Verzweiflung derer, die nicht einmal mehr die Hoffnung auf die Münzen des täglichen Almosens haben; die Summe der aus Frustration und Hass gemischten Gefühle bildet eine ungeheure Schlange aus glühender Lava, die unter der Stadt durchkriecht und Straßen, Gebäude, Glasscheiben und Körper vibrieren lässt." (Ares 2002) -- Die klassischen Bedingungen einer revolutionären Situation in einem großen Land scheinen erfüllt: Niemand sieht einen Ausweg. Die Herrschenden können nicht mehr wie bisher, die Beherrschten nehmen es nicht mehr hin. Die Demonstranten haben den Ruf, mit dem einmal die Militärdiktatur gestürzt worden ist -- "Se va a acabar,/ se va a acabar/ la dictatura militar!" (etwa: "Schluss mit der Diktatur!") --, abgewandelt in: "Se va a acabar, se va a acabar/ esa costumbre de robar!" (etwa: "Schluss mit der Klauerei!").

Aus dem Rauch von Ground Zero tauchte allmählich auf, dass das argentinische Paradigma sich plötzlich in die USA, zu den Angestellten des siebtgrößten Konzerns erstreckte, und die Spuren der raubenden Klasse führten ins Zentrum der US-Macht und der Staatsklasse. Wie ein schwarzes Loch der Politik und Ökonomie der USA gähnt "das Dunkel um die kataklysmische Pleite des Energiehändlers Enron", untersucht von 7 Ausschüssen des Kongresses. "Eine Führungsclique säckelte hunderte von Millionen Dollar ein, und ihre Investoren und Untergebenen verloren so gut wie alles, die Altersversorgung eingeschlossen." (Mejias 2002) Der Präsident, Duzfreund und Spenden-Empfänger des Enron-Chefs Kenneth Lay ("Kenny Boy"), verlor in seiner State-of-the-Union-Rede kein Wort darüber. Sein Interesse an Diskretion ist nur die Spitze des Eisbergs. "Von 100 Senatoren nahmen mindestens 71 Spenden von Enron entgegen." Der Justizminister und die Staatsanwälte von Houston gehören zu den Empfängern. Vizepräsident Cheney verweigert die Herausgabe seiner Gesprächsprotokolle mit Enron. Der von Bush eingesetzte Chef der Behörde für Börsen- und Finanz-Überwachung war für Andersen (die allein schon durch die Tatsache, dass sie zugleich die Enron-Buchhaltung besorgte, also Bock und Gärtner in einem war, korrumpierte Prüferfirma) als Anwalt tätig.

Dem Berichterstatter der FAZ ging schlagartig die Aktualität des Brecht-Stücks Die Heilige Johanna der Schlachthöfe auf, zu dem man noch drei Tage zuvor in derselben Zeitung lesen konnte: "Darin geht es, kurz gesagt, um den Sieg der Arbeiterklasse. [...] Alle Macht den Gräten! (Oder so ähnlich.) Dies hat sich erledigt. Und dies Drama auch." (Stadelmaier 2002) Mejias nun entnimmt diesem Drama die Sprache und die Bilder, um den Enron-Konkurs auf den Begriff zu bringen: "Houston, die Stadt, in der Enron alles durfte, hat [Brecht ...] in seinem fiktiven Chicago erahnt [...]. Dieser Schlachthof von Houston galt lange als ein Wunder der Neuen Ökonomie. [...] Die Schlächter brauchten kein Vieh mehr, der virtuelle Umsatz reichte." Das spielt an auf den Handel mit Derivaten, wobei lediglich die Vermittlungsgebühren verdient, jedoch die gesamten Umsätze als Gewinn eingebucht wurden. Man gründete eine Strohmännerfirma, Chewco, um Enron-Aktien zu kaufen und derart Verbindlichkeiten aus der Bilanz zum Verschwinden zu bringen. (27) Solchem spekulativ genutzten Schwindel verdankte Enron seinen atemberaubenden Aufstieg zum siebtgrößten Unternehmen der USA. Die Wirtschaftsprüferfirma Andersen, auch ein transnationaler Konzern, schwieg diskret. Enron gründete ein undurchsichtiges Netz von Tochterfirmen außerhalb der USA (der FAZ-Bericht spricht von nahezu 900), um die Steuer zu umgehen. Sollte das als "legal" Bestand haben, "läge der Beweis vor, dass das System selbst nicht funktioniert. Im kapitalistisch reinsten Land der Welt müsste der Skandal sich zum antikapitalistischen Lehrstück zuspitzen, wie es sich ein Bertolt Brecht nicht polemischer hätte ausdenken können. Nur die Wirklichkeit aber wagte sich an ein Szenario, in dem die Führungsspitze einer Firma vor dem Totalkollaps Aktien im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar abstößt, den Angestellten hingegen, deren Pensionskonto zunehmend schrumpft, ein Verkaufsverbot auferlegt. Der Ökonom Paul Krugman sagt darum voraus, das Wirtschaftsdebakel werde Amerika entscheidender prägen als der 11. September." Das geistige Kriegsrecht half, eine kleine argentinische Explosion in den USA zu verhindern: "Dass die Presse nicht härter zuschlägt, ist auch der neuen patriotischen Pflicht zur Konsensbildung zuzuschreiben." Doch jeder begreife, schließt der FAZ-Bericht, "dass im mysteriösen Zusammenspiel von Deregulierung, Technologie und Globalisierung etwas faul sein muss, wenn Angestellte, im eklatanten Gegensatz zu ihren Chefs, mit leeren Taschen nach Hause geschickt werden."

5. Schluss, kein Ende

Jan Philipp Reemtsma sieht mit Jürgen Habermas neben der genetischen Manipulation zwei hauptsächliche Zerstörungsmöglichkeiten für die moderne Rationalität: Die erste "könnte das Militant- und Mörderischwerden der Globalisierungskritik sein -- oder eine Reaktion darauf, die sich emotionell wie machtpragmatisch in diesen Strudel der Entdifferenzierung ziehen lässt." Die zweite bestehe in einer gesellschaftlichen Überdifferenzierung mit "Aufzehrung lebensweltlicher kommunikativer Rationalität durch die Imperative formal organisierter Handlungssysteme". Was Reemtsma nicht reflektiert, ist die Tatsache, dass die politisch Regierenden der USA aus der emotionell wie machtpragmatisch bezogenen spiegelbildlichen Gegenposition zum Terrorismus eine patriotische Sinnquelle gemacht haben. Vor allem der Rechtsstaat und das internationale Recht werden nun brutal entdifferenziert. Das blendende Unheil vom 11. September blendet sogar die jüngste Geschichte aus. Ein Präsident, der nicht einmal von der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, geschweige von einer Mehrheit der Wahlberechtigten gewählt worden und, streng genommen, durch Verfassungsbruch an die Macht gekommen ist, hat nun, wenn man uns nicht wieder hinters Licht führt, über 80 Prozent der Bevölkerung der Supermacht hinter sich vereinigt, nachdem noch kurz zuvor das Land zerrissen war. Es gibt dort -- zumindest momentan und im Blick auf den Präsidenten und seinen Krieg gegen den Terror -- keine Parteien mehr, nur noch die eine patriotische Partei der guten Amerikaner. Nie war die demokratisch-freiheitliche Grundordnung des Westens so gefährdet wie durch die jetzige Art ihrer vorgeblichen Verteidigung. Ich verstehe, dass in dieser Situation das paradoxe Phänomen negativer Leichtgläubigkeit wuchert, dass man aus gesundem Misstrauen jedem Gerücht Glauben zu schenken geneigt ist. "Wer in gewissen Situationen den Verstand nicht verliert, hat keinen zu verlieren", wie Lessing sagt.

Was bedeutet das für die Linke? Ist es eine Zeit der Heiligen der letzten Tage? Ist das Ende dieser Welt des transnationalen High-Tech-Kapitalismus nahe herbeigekommen, wie Robert Kurz verkündet?

Für Jean Baudrillard verkörperten die WTC-Zwillingstürme die "endgültige Ordnung" und "endgültige Macht", das Ende der Geschichte; der Terrorismus erscheint ihm als "Virus", der unbekämpfbar "in uns" sitzt. Den pluralen Universalismus der Demokratie lehnt er ab. Nicht nur als zwangsweise durchgesetzten, wo man ihm vielleicht folgen könnte (obwohl wir hier von dem durch die Alliierten im zweiten Weltkrieg zwangsweise durchgesetzten noch immer Gewinn ziehen). Baudrillard ist in der kulturalistischen Wende hängen geblieben, in der sich auch der moderne Rechtsradikalismus angesiedelt hat: "Kulturen sind wie Sprachen. Jede ist ein unvergleichliches, abgeschlossenes Kunstwerk für sich. [...] Man kann sie nicht am Universellen messen." Vergleichen kann man die Sprachen sehr wohl, und keine ist abgeschlossen. Ich muss es mir versagen, die sprachtheoretischen Phrasen Baudrillards zu kritisieren. Seine Sicht auf den gesellschaftlichen Prozess muss aber als Sichtweise noch angedeutet werden. Und zwar bekennt er sich als Manichäer. Die Welt sei an sich und a priori böse, ja sie sei sogar das Böse als solches; das Gute komme später, als Wunder; Gott sei die "beste und einfachste Hypothese". Das muss man im Auge behalten, um sich nicht unkritisch dem in mancher Hinsicht verführerischen Bild auszuliefern, das er von der Globalisierung zeichnet, ohne sich die Mühe zu machen, diesen mythischen Decknamen zu dekonstruieren.

"Sie beruht, wie früher der Kolonialismus, auf einer ungeheuren Gewalt. Sie schafft mehr Opfer als Nutznießer, auch wenn die westliche Welt mehrheitlich davon profitiert." Sie schafft ein "operationelles System des totalen Handels und Tausches" und "verwandelt alles in einen verhandelbaren, bezahlbaren Tauschwert. Dieser Prozess ist extrem gewaltsam, denn er zielt auf eine Vereinheitlichung als Idealzustand ab, indem alles Einzigartige [...] , mithin jede andere Kultur und letztlich jeder nichtmonetäre Wert aufgehoben würden".

Wie eingangs gesagt, bedarf es der Dialektik, um mit solchen Bildern umzugehen, an denen nichts schlechthin falsch und doch das Ganze das Unwahre ist. Solche Bilder sind praktisch nur für eine untätige Weltanschauung, für kritische Praxislosigkeit. Wer sich damit nicht zufrieden geben kann, wird sich um die Rückgewinnung des Sinns für Widersprüche bemühen. Gut und schlecht existieren nicht auseinander, im Destruktiven steckt auch das Konstruktive -- und umgekehrt.

Vielen solchen Bildern ist die Abwesenheit des Übergangs zur hochtechnologischen Produktionsweise gemeinsam. Um die soziale und umweltschonende Nutzung der Hochtechnologien muss gerungen werden. Es ist wahr, unsere Kräfte -- allgemein die Kräfte der am Weltzustand Leidenden und nach solidarischen Wegen Suchenden sind gegenwärtig schwach. Doch unser Verhalten ist Teil der Schwächung oder Stärkung dieser Kräfte.

Zur Stärkung trüge bei, auf dem Niveau der neuen Möglichkeiten die Utopie als konkrete zurückzugewinnen: Die Befreiung von schwerer körperlicher Arbeit, die Intellektualisierung der Arbeit -- das gerät nur zum Fluch, solange der Profitlogik die Gestaltung der gesellschaftlichen Zusammenhänge überantwortet bleibt. Ein kluger Liberaler müsste Dahrendorf folgen, wenn er sagt: "In dieser Zeit der Globalisierung ist eine Kernfrage: Wie lässt sich die nötige Konkurrenzfähigkeit erzielen, ohne den sozialen Zusammenhalt unnötig zu zerstören?" Seine Antwort: Es bedarf einer Sozialpolitik als "Ausdruck einer sozialen Haltung, die weder primär durch Macht und Gehorsam, noch durch Gewinn und Interesse bestimmt ist". Nach dem 11. September, sagt er, wurden "auf einmal Werte erkennbar, die nicht amerikanisch oder europäisch sind, sondern einen breiteren Anspruch enthalten".

Freilich erschrickt Dahrendorf alsbald vor seinem eignen Gedanken. Denn was wäre nicht alles nötig, um die Welt in dieser Richtung umzugestalten, wenn das mehr bedeuten soll, als dass jeder Scheckkartenbesitzer mit gedecktem Konto an jedem Geldautomaten der Welt ungestört Geld herauslassen und dafür kaufen kann, was immer sich in Warenform bringen lässt. Dahrendorfs Schluss -- ein schwacher Trost: "Die Gebäude [...] können zerstört werden [...]; aber die Werte, von denen wir uns leiten lassen, haben Bestand."

Was ist das für ein Wir und was sind das für Werte? Das Wir ist erst dabei, sich zu konstituieren, und es hauste gewiss nicht in den Zwillingstürmen, auch wenn es im Hinterkopf so mancher gespukt haben mag, die darin umgekommen sind. Bei aller fortdauernden Bedeutung der territorial bedingten Gemeinschaft, also auch des Nationalstaats müssen wir heute von der Unmöglichkeit ausgehen, nicht in weltweiter Vernetzung Politik zu treiben. Aber warum es als doppelte Negation ausdrücken?

Nochmals im Staccato einige der Determinanten: 1. Die Konflikte sind Derivate, Terrorismus "ein Symptom, nicht die Krankheit" (Roy 2001, 10) -- der Brandherd liegt auf einer anderen Ebene als die Löschversuche; 2. "Kriege" werden desartikuliert in sogenannte "Sicherheitspolitik" (Becker 2002, 23), das ist die Pseudopolitik der Erzeuger von Unsicherheit -- sie ist weder primär Politik, noch bringt sie Sicherheit; 3. die Konfliktstruktur charakterisiert sich durch eine neue Art von Bipolarität -- anders als die alte gründet sie nicht auf der Konkurrenz zweier Gesellschaftssysteme, sondern der neue Feind ist global-zerstreut, also nicht territorial-staatlich eingrenzbar; 4. die Grenze zwischen außen und innen verliert an Bedeutung, und die zu schützende "eigene" Bevölkerung ist nicht mehr klar geschieden von der zu kontrollierenden und im Zweifelsfall zu unterdrückenden feindlichen Bevölkerung; 5. die USA erscheint als "Proto-Weltstaat [...] mit dem Potenzial, sich an die Spitze einer modernen Version eines Universalimperiums zu setzen, sogar eines spontanen Imperiums, dessen Mitglieder ihm freiwillig angehören [...] Damit er Erfolg hat, bedarf es der Zustimmung oder sogar der Transformation der Eliten, welche die potenziellen Bürger des Imperiums sind." (Pfaff) Man beachte, dass nur die Eliten nach dieser Konzeption das reale Bürgerrecht erhalten sollen. Der neue Primat der Gewalt zehrt nun aber die Ressource Konsens auf.

Andererseits weist selbst diese kapitalistische Globalisierung Züge auf, die wie ein Zerrbild der "kulturellen Vereinigung der Menschheit" (Gramsci) wirken. Sie ist radikal zweideutig. Wir leben mehr denn je in einer "Epoche der Ambivalenz", wie Peter Weiss sie in den Notizen zur Ästhetik des Widerstands notiert hat.

Die Globalisierung pauschal zu bekämpfen, statt in ihren Widersprüchen zu kämpfen, hat daher keinen Sinn. Aber "eine andere Welt ist möglich", wie das Motto des Weltsozialforums in Porto Allegre lautet. Wenn wir nicht das Szenario vom Untergang der Stadt Passau spielen wollen -- ein Social Fantasy Roman von Carl Améry -- dann bleibt uns nur dieser Weg, der in Porto Allegre in diesen Tagen vielstimmig gesucht wird: Einzutreten in den Kampf darum, "der herrschenden Globalisierungspolitik eine andere entgegenzusetzen [...], die die praktischen Notwendigkeiten vernünftiger politischer und sozialer Verhältnisse im globalen Maßstab thematisiert und sich für eine "Weltinnenpolitik" einsetzt, die wenigstens ansatzweise humanitären, sozialen und demokratischen Prinzipien folgt" (Hirsch 2001, 520). Da der Globus indes das Aufmarschgebiet der imperialen Geopolitiken ist, sprechen wir besser von Weltwerdung oder Mundialisierung (vgl. dazu Haug 2002, 441). Dazu bedürfen wir der Vision einer solidarischen Vergesellschaftung im Verein mit nüchterner Analyse.

Antiamerikanismus wäre dabei hinderlich. Er wäre nicht weniger töricht als zur Zeit Gramscis, der in seinen Notizen zu Amerikanismus und Fordismus gezeigt hat, dass sich der Rückschritt damit bemäntelt. Auch wenn die Rede vom nicht mehr nationalstaatlichen "Imperium" als "the sovereign power that governs the world" (Hardt/Negri 2000, XI) vorläufig nicht viel mehr als ein Mythos ist, der den Imperialismus der USA und die rivalisierenden Imperialismen hinter "einer Reihe nationaler und supranationaler Organismen" verschwinden lässt, "die unter einer einzigen Logik der Herrschaft vereint sind" (XII), so ergibt sich aus dem neuen Weltzustand für die Linke doch ein gestaffelter Ansatz, der das, worauf jenes Phantasma sich stützen kann, mitberücksichtigt. Wie in der "supranationalen" Europapolitik wird die Linke systemimmanent auf Demokratisierung drängen. Sie wird alles stärken, was unter Berufung auf die universellen Werte der Demokratie und der Menschenrechte der "Plutokratie" zuwiderläuft. Sie wird sich also auf die demokratiezugewandte Seite derselben Werte berufen, von denen auch das "Imperium" seine Legitimität herleitet. Sie wird versuchen, zugleich auf den Ebenen des Nationalstaats, der supranationalen Europapolitik und der "Weltinnenpolitik" zu agieren. Die Antwort auf Antiamerikanismus oder fundamentalistische Absagen an "den Westen" kann aber nicht, wie etwa bei Martin Altmeyer, in der Absage an kritische Kapitalismustheorie und der normativen Verklärung des "westlichen" Modells" unter Ausblendung von dessen kapitalistischer Basis bestehen. Für Altmeyer ist das "westliche" Modell "weder partikular noch in seiner Anwendbarkeit auf bestimmte Regionen der Welt beschränkt", "kein illegitimer Export", sondern "Grundlage einer Weltmoral, weil es jedermann die gleichen Rechte zuerkennt" usw., wobei die Schattenseite mit Habermas als das Versäumnis gesehen wird, "für den Verlust [...] religiöser Sinnstiftung eine Entschädigung in Aussicht zu stellen" (2002, 19; zu Habermas vgl. Haug 2001a, 436ff). Diese Antwort opfert nach der Ökonomiekritik auch die Ideologiekritik und bringt damit die westliche Aufklärung um ihre besten Früchte. Sie schließt die Augen davor, dass "sich hinter der gleißenden Fassade vernünftiger Allgemeinheit partikulare Interessen verbergen können" (Habermas 2002, 178). Sie nimmt statt dessen die Ideologie für bare Münze, bei der nur noch etwas spirituelles Geld dazugelegt werden muss. Mag das "westliche" Modell" in abstracto jedem Menschenkind die gleichen Rechte zusprechen, so raubt es doch in concreto, durch bloßes Wirken der durch Deregulation, Privatisierung und Freihandel vollends entfesselten Marktkräfte, der großen Mehrheit der heute lebenden Menschen elementare Bedingungen eines würdigen Lebens. Will man aber den hehren Werten mehr Realität beschaffen, dann müssen die Marktkräfte global umgesteuert werden. Auch ein Imperium unter US-Dominanz nach der spekulativen Vision von Hardt und Negri bedürfte einer Weltinnenpolitik, die wenigstens im Ansatz den auf den Lippen geführten demokratischen Prinzipien folgt. "Anders ist ein globales Desaster kaum zu vermeiden." (Hirsch 2001, 518) In der Tat lässt sich, wie auch Jürgen Habermas sieht, "ohne eine politische Zähmung des entgrenzten Kapitalismus der verheerenden Stratifikation der Weltgesellschaft nicht beikommen" (2002, 173). Globaler Gestaltungspolitik steht indes entgegen, "dass weltweit ein katastrophenhaltiger Mangel einigermaßen verantwortlicher und also kontrollierbarer Institutionen besteht" (Narr 2001, 509). Nach Habermas (2002, 175) befinden wir uns "längst im Übergang vom klassischen Völkerrecht zu dem, was Kant als weltbürgerlichen Zustand antizipiert hatte", ein Übergangszustand, dessen "Ambivalenz" Habermas freilich auch sieht und in der Serie der damit legitimierten Kriege festmacht. Antje Vollmers Hoffnung, ab jetzt würden "es sich Staaten nicht mehr erlauben, leichtfertig und interessegeleitet mit terroristischer Gewalt umzugehen. Terrorismus [...] wird global geächtet sein", umgeht die Frage der Definitionsmacht und damit des Staatsterrorismus. Wenn es dringlich erscheint, "die Handlungsfähigkeit der UNO zu verbessern" (Sigrist 2002), so wird dieser Vorsatz unter den gegebenen Kräfteverhältnissen immer aufs Neue enttäuscht. Die Entstehung eines "Unterbaus" für die UNO, "der für die Implementierung hochherziger Programme und Politiken bürgt", erwartet Habermas davon, dass "sich eines Tages die großen kontinentalen Regime wie EU, NAFTA und ASEAN zu handlungsfähigen Aktoren entwickelt haben, um dann transnationale Vereinbarungen zu treffen und für ein immer dichteres transnationales Geflecht von Organisationen, Konferenzen und Praktiken Verantwortung zu übernehmen" (2002, 176). Doch um die demokratische Rückbindung solcher Netzwerke der Macht durchzusetzen, bedürfte es, mit den Worten Joachim Hirschs, der "Konstitution einer wirklich neuen, internationalen politischen und sozialrevolutionären Bewegung" (2001, 520). (28)

(Fortzusetzen.)

Literaturnachweise

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Anmerkungen

1. Cohen zufolge ist der Feind entgegen der offiziellen Bekundungen nicht der Terrorismus, sondern der militante Islam.

2. Dazu fügt sich die Gründung eines Amtes für Desinformation bei der US-Armee, das nach öffentlichen Protesten zum Schein aufgelöst, in Wirklichkeit aber nur institutionell besser versteckt untergebracht worden zu sein scheint.

3. Dazu gehört, wie andere Positionen zitiert werden. Auch als kritisierte sind sie nicht einfach verworfen, sondern 'aufgehoben' im Bild.

4. Drôle de guerre -- so hieß die erste Phase des Zweiten Weltkriegs nach dem deutschen Überfall auf Polen und der daraufhin erfolgten Kriegserklärung der Westmächte, als deren Armeen sozusagen Gewehr bei Fuß verharrten, bis die deutsche Armee von der Ostfront nach Westen zurückflutete und die Offensive eröffnete.

5. In der Milde vollendeter Selbstzensur mahnt Antje Vollmer: "Politische Strategen müssen also in der Wahl ihrer Partner vorsichtiger und nachhaltiger vorgehen." (2002)

6. Die "um den 11. September herum vorgesehene Veröffentlichung" einer Untersuchung zur Wahl wurde zurückgezogen, die Buchhandelskette Barnes & Noble sagte die Autorenlesung eines Bush-kritischen Buches ab, während der Sprecher des Weißen Hauses warnte, die Amerikaner "sollten genau darauf achten was sie sagen und was sie tun", usw. (Krippendorff 2002).

7. Zwei Drittel der US-Bevölkerung "nach dem Anschlag, heute [Februar 2002] noch immer 47 Prozent; zwischen 53 und 77 Prozent finden nichts dabei, um der Sicherheit willen zu foltern, Terroristen außerhalb der normalen Rechtsprechung von Militärgerichten abzuurteilen oder einfach umzubringen oder auch Staatsoberhäupter zu ermorden, die Terroristen Unterschlupf gewähren." (Krippendorff)

8. Laut Peter Glotz "wissen alle halbwegs nüchternen Beobachter": es ist im vorliegenden Fall "unsinnig, von 'Krieg' zu reden"; verständlich sei es indes: Bush "wollte die Hilflosigkeit bemänteln, in der er sich -- als mächtigster Mann der Welt -- befand". Glotz: "Wir alle hoffen, dass die amerikanische Politik die kalte, aufs Langfristige zielende Entschlossenheit bewahrt, die sie in den ersten vier Wochen nach dem Anschlag [...] zeigte." (2001, 641)

9. Die an sich absurde Kriegserklärung gegen unbekannt erlaubt es den USA, die außenpolitischen Beschränkungen der Terrorismusbekämpfung auszuhebeln, Parlament, UNO und Nato zu entsprechenden Beschlüssen zu bewegen und die Gesellschaft durch die Einberufung von Reservisten zu mobilisieren (vgl. Daase 2002, 40f).

10. Sie musste in der Folge "ebenso um Polizeischutz bitten wie eine zweite, Marty Meehan, die lediglich laut Zweifel an der Gefahr geäußert hatte, die angeblich nach dem 11. September für das Präsidentenflugzeug bestanden habe (später stellte sich heraus, sie befand sich im Recht)" (Krippendorff 2002).

11. Nicht nur individuelle Menschen- und Bürgerrechte werden teilweise abgeschafft, sondern die rechtsstaatliche Trennung von Auslandsgeheimdienst und Bundespolizei durchlässig gemacht und die richterliche Kontrolle über polizeiliches Handeln aufgeweicht. Das alte Prinzip in dubio pro reo ist jetzt ins Gegenteil verkehrt.

12. Zur Zartheit der selbstzensierten Rede kommt der Versprecher, der Symptomwert hat: "Eine stabile Ordnung der Welt, in der nur [?!] die europäischen Nationen im 21. Jahrhundert Sicherheit finden können, wird auf multilaterale Führungs- und Ordnungsstrukturen nicht verzichten können." (Schäuble 2002)

13. So z.B. Gerhard Dilger in seinem Gespräch mit dem Brasilianer José Luís Fiori im ND, 31.1.02, 7. Fidel Castro nimmt an, ohne den terroristischen Anschlag wären doppelt so viele Globalisierungskritiker in Porto Allegre zusammengekommen.

14. Vgl. etwa die ND-Kolumne von Robert Kurz, der im Einsturz der WTC-Türme eine Allegorie für seinen "Kollaps der Moderne" zu sehen schien.

15. Antje Vollmer zieht die Parallele zu den Attentaten der RAF: das Bestreben der Islamisten, "den Kampf 'in die Metropolen' zu tragen, erinnert [...] an den westeuropäischen Terrorismus der siebziger und achtziger Jahre" (2002). Zur Differenz siehe weiter unten.

16. "Wasch das Geld aus deinem Denken (das ist schwerer, als du vermutest)."

17. Vgl. die vorangegangene Analyse in Haug 2001a.

18. So die RAF und ähnliche Gruppen, die es darauf anlegten, den Schrecken in die Schicht der Konzernmanager oder in die Staatsklasse zu tragen.

19. Die USA sind z.B., wie Mayer in Erinnerung ruft, verantwortlich für eine lange Serie von Mordanschlägen gegen unliebsame Staatsmänner -- und, wie man hinzufügen möchte, noch immer verdächtig, durch einen ihrer Gewaltapparate den eigenen Präsidenten John F. Kennedy umgebracht zu haben.

20. Dass die Führer antiwestlicher Bewegungen oft aus privilegierten und gebildeten Schichten stammen, kann nur den erstaunen, der nichts von Prozessen gegenhegemonialer Organisation versteht.

21. "Like the U.S. today in moving against the axis, the marshal in 'High Noon' was trying very hard to be multilateral -- he desperately wanted a posse. He just had no takers. What the marshal was unwilling to do is to give up doing his duty just because everyone else found excuses to stay out of the fight." (Woolsey 2002)

22. Die Regierungen müssen "auf Fragen von Krieg und Frieden als bestellte Lieferanten des amerikanischen Selbstbedienungsbüffets reagieren" (Schümer).

23. Gemeint ist hier, dass ein 'amerikanisches' Reich sich über den gesamten Globus ohne politische Grenzen im Raum und ohne Grenzen in der Zeit, also auf unabsehbare geschichtslose Zukunft erstrecke. Das beschreibt weniger die Wirklichkeit, als dass es eine ideologische Latenz idealtypisch ausdenkt.

24. Etwas vage stimmen Brigitte Young und Simon Hegelich zu: Die Reaktion der USA auf den 11. September "produziert einige Fortschritte der 'Neuen Weltordnung' und weitere Ansatzpunkte für Unzufriedenheit" (2001, 536).

25. Vgl. FAZ, 25.1.02, 16

26. In neoliberaler Sicht sind dafür neben der "miesen Qualität der Politiker und des Justizapparats" die "Defekte der Volksseele" Argentiniens verantwortlich - so der Wirtschaftsleitartikel der Neuen Züricher Zeitung vom 12./13.1.2002, 19 (gezeichnet wm.).

27. Laut Financial Times (14.2.02, 16) sollen derart jährlich zumindest 600 Millionen Dollar Schulden "versteckt" worden sein ("off-balance-sheet").

28. Hirsch befürchtet, dass die Ansätze zu einer solchen Bewegung "zum eigentlichen Objekt der sich aufrüstenden staatlichen 'Terrorbekämpfung' werden" könnten (ebd.).
 

   
 
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