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In Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Kriminologie der Fachschaften Soziologie und Jura der LMU München
Fredrik Roggan
Überwachte Demokratie - Vom Rechtsstaat zum präventiven Sicherheitsstaat?
Manuskript des Vortrages vom 11. September 2003 im EineWeltHaus. Zwischentitel von uns.

 

Inhalt:
Schleichende Übergänge
Vorfeldermittlungen
Videoüberwachung: Jeder ist verdächtig
Biometrie: Die Augen der Bösen?
Schleichende Übergänge   INHALT

WanzeEs waren tatsächlich deutliche Worte, die die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Limbach im letzten Jahr hier in München wählte, um ihrer Sorge um den bundesrepublikanischen Rechtsstaat Ausdruck zu verleihen:

"Der Grenzverlauf zwischen dem Rechts- und dem Präventionsstaat lässt sich nicht eindeutig markieren. Es gibt allemal Grauzonen und schleichende Übergänge zum Polizeistaat, die zu steter Wachsamkeit herausfordern."

Hat sich das Rechtssystem der Bundesrepublik, also die Gesamtheit der die Bürger betreffenden Eingriffs-Normen, tatsächlich bereits von seinen es einhegenden Prinzipien abgelöst? Oder lassen sich wenigstens entsprechende Auflösungserscheinungen diagnostizieren? Ist es also wirklich so, dass uns inzwischen weniger die Gesetze als vielmehr das zurückhaltende Gebrauchmachen von ihnen vor einem Polizeistaat moderner Prägung bewahrt, wie uns zum Beispiel die ZEIT auf einer ihrer Titelseiten gemahnte? Der Inhalt der Limbachschen Warnung ist zu existentiell, als dass man diesen und ähnlichen Fragen von vornherein ausweichen dürfte.

Wichtig erscheint mir zunächst die Feststellung, dass die äußerste Grenze dessen, was die Gesamtheit der Eingriffsbefugnisse erlaubt, ein wichtiger Maßstab für die Verfasstheit eines Staatswesens ist. Der Polizeistaat, so die bislang unbestrittene rechtswissenschaftliche Definition, unterscheidet sich vom zivilisierten Kulturstaat dadurch, dass er die Individuen nicht sämtlich als potentielle Sicherheitsrisiken versteht. Dies muss sich insbesondere auch normativ ausdrücken. Eingriffsbefugnisse für die Polizei, die jedermann im Visier haben, sind schon deshalb von nicht unerheblicher Bedeutung. Und gerade in dieser Hinsicht hat das Rechtssystem der Bundesrepublik leider – nicht erst seit den Sicherheitspaketen nach dem 11. September 2001 – unübersehbare "Fortschritte" gemacht.

Vorfeldermittlungen   INHALT

Ich möchte hier zunächst ein Beispiel herausgreifen, das exemplarisch zeigt, wie schlecht es um Grenzziehungen bestellt ist: Der gesamte Bereich der so bezeichneten Vorfeldermittlungen ist in sich entgrenzt. Wenn man die Vorschriften in den verschiedenen Polizeigesetzen unter dem genannten Blickwinkel untersucht, so wird man schnell feststellen, dass sie eben keine Grenze im Anfangsverdacht im strafprozessualen Sinne vorsehen. Der Anfangsverdacht aber übernimmt im rechtsstaatlichen Strafprozessrecht eine wichtige Begrenzungs- und Steuerungsfunktion. Es bestimmt wenigstens zu einem bestimmten Maß den Gegenstand, auf den sich polizeiliche Ermittlungen zu beziehen haben. Er verhindert insbesondere heimliche Ausforschungen der Bürger ins Blaue hinein. Und er bedeutet das Verbot der gezielten Suche nach Zufallsfunden. Stattdessen statuiert er eine beweisthematische Verknüpfung von Ermittlungsmaßnahme und konkretem Aufklärungsziel.

Solche Restriktionen kennt das operative Ermittlungskonzept in Gestalt der polizeirechtlichen Vorfeldermittlungen nicht mehr. An die Stelle des strafrechtlichen Verdachts setzt es die polizeiliche Prognose, dass irgendwann einmal irgendjemand irgendeine Straftat begehen könnte. Daraus ergibt sich, dass prinzipiell alle verfügbaren Informationen von polizeilichem Belang sein können. Entsprechendes gilt vom Personenkreis, der von solchen Ermittlungen betroffen ist oder sein kann: Im strafprozessrechtlichen Sinn handelt es sich dort sämtlich um Unverdächtige. Solcherlei Ausforschungskonzept haftet auf der Ebene der Legalität in der Tat etwas Totalitäres an, wie in letzter Zeit selbst gestandene Lehrbuchautoren konstatieren.

Lassen sie mich aus dem Bereich der Vorfeldermittlungen ein Beispiel herausgreifen, das gegenwärtig Schule zu machen scheint: Die sog. "Präventive Telefonüberwachung". Thüringen ist diesbezüglich der Vorreiter in Sachen Telekommunikationsüberwachung (TKÜ). Längst wird nicht mehr nur der Fernmeldeverkehr für Zwecke staatlicher Kriminalitätsbekämpfung genutzt. Generell werden die Telekommunikationsnetze vom Internet bis hin zum Mobilfunkverkehr für Überwachungsmaßnahmen dienstbar gemacht. Die Bedeutung von Handys lässt sich nur unvollständig erfassen, wenn man ausschließlich das Abhören von Gesprächen in den Blick nähme. Vielmehr verraten sie jeweils – technisch bedingt – den Aufenthaltsort ihrer Besitzer. Und das unabhängig davon, ob mit ihnen telefoniert wird oder nicht.

Zum thüringischen Beispiel der Telekommunikationsüberwachung im neuen § 34 a PAG, das in ähnlicher Fassung auch hier in Bayern eingeführt werden soll:

Vergleichsweise unproblematisch ist hier die TKÜ zur Gefahrenabwehr, hochrangige Rechtsgüter betreffend. Hier handelt es sich tatsächlich um Prävention, nämlich darum, existentielle Gefahren für Menschen abzuwehren. Ich gehe – das nur als Randbemerkung – diesbezüglich nicht von einem Verstoß gegen Gesetzgebungskompentenzen aus, wie das verschiedentlich geäußert wurde.

Problematisch erscheint mir jedoch, dass die Regelungen insgesamt erheblich zu weit gefasst werden: Ich will hier drei Punkte herausgreifen:

  • Eine TKÜ ist in Thüringen schon aufgrund der Prognose zulässig, dass jemand irgendwann einmal irgendeine Straftat aus dem Katalog des § 100 a StPO begehen könnte.
  • Betroffen sein können nicht nur potentielle Straftäter, sondern auch sog. Kontakt- und Begleitpersonen. Allein das bedeutet eine erhebliche Ausweitung des von entsprechenden Datenerhebungen betroffenen Personenkreises.
  • Überhaupt fehlt es an einem Argumentations- und Rechtfertigungszwang der Polizei hinsichtlich ihrer Annahmen, wie das etwa bei der Belegung einer Gefahr als polizeirechtliche Eingriffsvoraussetzung der Fall ist. Denn einer Gefahr für irgendein Rechtsgut bedarf es ja gerade nicht mehr.

Der ohnehin überhand nehmenden Überwachung der Telekommunikationsnetze wird auf diese Weise weiterer Vorschub geleistet. Und insbesondere werden im Wesentlichen in jeder Hinsicht unverdächtige Bürger in Anspruch genommen, die aus vielfältigen Gründen Kontakt zu einer Person haben, der wiederum polizeilicherseits eine bestimmte Straftat zugetraut wird. Hier erkennt man auch dass es eben nicht mehr um Gefahrenabwehr geht, sondern um die von einem Anfangsverdacht unabhängige Kontrolle der Telekommunikation.

Videoüberwachung: Jeder ist verdächtig   INHALT

Die rechtliche Definition von Jedermann als Sicherheitsrisiko begegnet uns aber nicht nur im Bereich der geheimen polizeilichen Tätigkeit. Die sog. Schleierfahndungen (Art. 13 I Nr. 5 PAG) und die polizeilichen Videoüberwachungen (Art. 32 II PAG) sind – unabhängig von ihren hehren Zielen – geradezu klassische Ermächtigungen, die Eingriffe in die Rechte von Jedermann zulassen. Es bedarf dort eben keines irgendwie gearteten Verdachts, damit die Menschen im öffentlichen Verkehrsraum zum Objekt von staatlichen Kontrollmaßnahmen werden können. Bei den verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrollen ist dieser Umstand relativ leicht zu erkennen. Weniger leicht fällt eine solche Diagnose bei den Videoüberwachungen, wie sie sich inzwischen in immer mehr Polizeigesetzen finden. Jedoch leistet das Bundesverfassungsgericht wertvolle Hilfestellung: Im viel zitierten Volkszählungsurteil von 1983 sprach es aus, dass derjenige Mensch, der nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen könne, welche ihn betreffende Information in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und der das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einzuschätzen vermöge, in seiner Freiheit gehemmt werden könne, aus eigener Selbstbestimmung zu planen und zu entscheiden. Eine entsprechende Unsicherheit könne gar zu einem Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten führen. Die Bürger müssten daher wissen können, "wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß". Daraus folge, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraussetze.

An diesem Maßstab sind auch die Regelungen über die polizeilichen Videoüberwachungen von öffentlichen Plätzen zu messen. Hier wird offenbar, dass die Menschen eben nicht mehr wissen können, welche Daten über sie erhoben, gespeichert und wie diese verwendet werden. Solcherlei Maßnahmen bedrohen die Grundfesten des informationellen Selbstbestimmungsrechts und damit die vom Bundesverfassungsgericht genannte verfassungsmäßige Ordnung.

Mitunter müssen Bildaufzeichnungen, die bei solchen Videoüberwachungen anfallen, erst nach einem Monat gelöscht werden. Das ist nicht nur deswegen bemerkenswert, weil sich andere Polizeigesetze mit gerade einmal 2 Tagen begnügen, sondern auch deshalb, weil sich solche Regelungen wiederum auf Konfrontationskurs mit dem Bundesverfassungsgericht befinden: In der schon zitierten Entscheidung heißt es nämlich auch: "Ein Zwang zur Angabe personenbezogener Daten setzt voraus, dass der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt und dass die Angaben für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind. Damit wäre die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch unbestimmbaren Zwecken nicht zu vereinbaren.

Das ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil immer mehr Grenzen staatlicher Daten-Sammelwut vermeintlichen oder tatsächlichen neuen Bedrohungen zum Opfer fallen - auch unter Beschränkung anderer Grundrechte. Ich nenne als weitere Beispiele hier nur die elektronische Rasterfahndung des BND, also die verdachtsunabhängige Kontrolle der Telekommunikation mit dem Ausland, und die schon genannte Telekommunikationsüberwachung nach der Strafprozessordnung, von der in der ganz überwiegenden Mehrzahl Unverdächtige betroffen sind. Die Liste ließe sich noch erheblich ergänzen. Wer will angesichts der unzähligen Betroffenen schon noch behaupten, dass er sich der Privatheit z.B. seiner Telefonate noch sicher ist? Man kann hiervon nur abraten, wenn man sich vergegenwärtigt, was das Bundesverfassungsgericht in einer mündlichen Verhandlung zutage förderte: In Deutschland wird jedes Telefonat abgehört. Und das gleich mehrfach. Insbesondere ausländische Geheimdienste sind hier die freiheitsrechtlichen Übeltäter.

Aber auch von deutscher Lauscherei sind inzwischen mehrere 100.000 Unverdächtige jährlich betroffen. Mein Vorstandskollege Dr. Kühling, selber ehemaliger Bundesverfassungsrichter, schreibt im neuen Grundrechte-Report, dass man das Brief- und Fernmeldegeheimnis getrost als Totalschaden abschreiben könne. Und erst kürzlich gestand ein Landesbeauftragter für den Datenschutz, dass er die Herrschaft über seine Daten verloren habe. Ich selber kann nichts Gegenteiliges behaupten.

Biometrie: Die Augen der Bösen?   INHALT

Und das Terrorismusbekämpfungsgesetz vom letzten Jahr hat die ohnehin zu notierende Entwicklung weiter beschleunigt: Um Geldströme internationaler Terrororganisationen zu erforschen, darf der Verfassungsschutz bei Banken Informationen abfragen und Auskünfte bei Postdienstleistern und Luftverkehrsunternehmen einholen. Allgemein hat die Polizei einen wesentlich erleichterten Zugriff auf das Ausländerzentralregister erhalten. Fingerabdrücke von Asylbewerbern können automatisch mit dem sog. Tatortspurenbestand des BKA abgeglichen werden. Und wer als Ausländer per Visum in die Bundesrepublik einreisen möchte, kann sogleich - zusammen mit den deutschen Einladenden - von den Geheimdiensten auf seine "Zuverlässigkeit" hin überprüft werden. Wer also als Flüchtling oder anderer Ausländer zukünftig in die BRD einreist, wird in vielerlei Hinsicht als potentiell Tatverdächtiger behandelt.

Der gläserne Mensch also als Perspektive?? Dass solche Frage nicht bloß rhetorischer Natur ist, zeigt ein Blick in das novellierte Paß- und Personalausweisrecht: Dort ist die Möglichkeit vorgesehen, dass der Bundestag (mit einfacher Mehrheit!!) die Einführung von biometrischen Merkmalen in die deutschen Personalpapiere beschließen kann. Bei solcher Gelegenheit bestände übrigens auch die Möglichkeit, das bislang vorgesehene Verbot einer zentralen Referenzdatei, die den automatisierten Abgleich etwa mit Videobildern aus dem öffentlichen Verkehrsraum ermöglichte, wieder abzuschaffen.

Irrationale Panikmache? In Tampa/USA mussten sich bereits die Besucher eines ganzen Stadions den Abgleich ihres Antlitzes mit einer Datei von gesuchten Personen gefallen lassen. Und wer wollte angesichts der immer tabuloser geführten rechtspolitischen Debatte, in der selbst die Legalisierung von Folter und Zwangskastration immer schamloser thematisiert wird, noch ausschließen, dass auch die planmäßige videotechnische Überwachung der biometrisch vermessenen Menschen demnächst für sinnvoll erachtet wird? Der unter bürgerrechtlichen Gesichtspunkten fatale Kreis könnte sich dann mit den schon genannten Videoüberwachungen im öffentlichen Verkehrsraum schließen.

Unabhängig davon ist bis heute nicht überzeugend dargelegt worden, was solche biometrischen Merkmale in deutschen Personaldokumenten überhaupt zu tun haben mit Nicht-Deutschen, die Verkehrflugzeuge in amerikanische Hochhäuser steuern. Es gibt hier schlicht keinen Zusammenhang. Deshalb sage ich, dass solche Befugnisse ungeeignet sind, den angestrebten Gesetzeszweck überhaupt erreichen zu können.

Die Art und Weise, in der die rechtspolitische Diskussion geführt wird, lässt für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Ehemals als Ausprägung eines freiheitlichen Rechtsstaats verstandene Prinzipien verlieren mit Rasanz an Bedeutung. Wer hätte sich vor zehn Jahren schon vorstellen können, dass das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten praktisch bedeutungslos werden würde? In einigen Bundesländern unterscheiden sich die Behörden nur noch dadurch, welche Art von Kriminalität ihren Vorfeldbeobachtungen unterworfen wird.

Mir wird gelegentlich entgegengehalten, dass die verschiedenen Sicherheitsbehörden überhaupt nicht über die finanziellen, personellen und technischen Ressourcen verfügten, um das gesetzlich Erlaubte zur Normalität erwachsen zu lassen. Solch Gegenargument mag für den Augenblick den einen oder die andere beruhigen. Freilich zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass solch Erwiderung überhaupt keinen Widerspruch zu der Limbachschen These – die ich selber bereits seit einigen Jahren vertrete – von der existentiell gefährlichen Rechtsentwicklung enthält: Wer will schon haushaltsmäßigen Entscheidungen die Verantwortung dafür überlassen, welche weitere Entwicklung unser Rechtsstaat nimmt?
 
 

   
 
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