Über die Grenzen
    Perspektiven der europäischen Linken

    Die Europäische Union entwickelt derzeit mit dem Militärbündnis WEU eine für sie neue Qualität internationaler Macht. Ihre eigentümliche, vordemokratische Struktur und ihre intensive Verflechtung mit Wirtschaftsinteressen macht sie zu einem wesentlichen Faktor der Entdemokratisierung politischer Entscheidungen, der mit seiner von angeblichen Sachzwängen bestimmten Entscheidungslogik ein wesentliches Hindernis emanzipativer linker Politik darstellt.

    Dass die europäische Ebene in den Diskussionen an der linken Basis derzeit dennoch kaum eine Rolle spielt, veranlasste den Verein "Gegenentwurf - für eine solidarische Gesellschaft e.V." dazu, das Verhältnis der Linken zur EU ins Zentrum einer Diskussionsveranstaltung zu stellen, die wir hier kurz wiedergeben möchten.

    Der geladene Referent Frieder Otto Wolf ließ einen spannenden und kompetenten Vortrag erwarten. Als marxistischer Philosoph in linker Theorie ebenso zu Hause, wie in der politischen Praxis als langjähriger Fraktionsmitarbeiter und schließlich ehemaliger Abgeordneter des europäischen Parlaments (für Bündnis 90/die Grünen), sowie durch seine Arbeit im außerparlamentarischen Raum: Ein Grenzgänger mit dem offensichtlich äußerst produktiven Anspruch, dem politischen Alltag der bestehenden Verhältnisse mit fundierter marxistischer Theorie zu Leibe zu rücken.

    Das einigende Ziel linker Politik besteht für Frieder Otto Wolf in der Forderung nach gleicher Freiheit für alle, in der Ablehnung der Herrschaft von Menschen über Menschen. Ins Zentrum müsse das Individuum mit seinen Bedürfnissen, und damit die Selbstorganisation rücken: eine "Politik in der ersten Person".

    Paternalistische Strukturen der Linken seien seit Anfang der 60er Jahre ein Einfallstor des neoliberalen Umbaus gewesen. Gegen diese gerichtet habe er nach den notwendigen Verschiebungen Begriffe wie den der "Eigenverantwortung" für sich vereinnahmen und das antiautoritäre Motiv zum "Unternehmer seiner selbst" verbiegen kännen. Unter Nutzung der demokratischen Institutionen wie auch, exemplifiziert am Pinochet-Putsch, durch Mittel der Gewalt, sei seit den 60 Jahren ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel zugunsten des Kapitals durchgesetzt worden, den Wolf mit dem Begriff der "neoliberalen Gegenreform" bezeichnet. Die ideologisch geprägte Wirtschaftstheorie der Chicago-Boys sei hier ein wirksames Bündnis mit den althergebrachten Mächten des Kapitals, den neuen Technologien und den neuen Medien eingegangen. Der traditionelle Aktionsraum der Linken, der Bereich typischer, d.h. lang dauernder, gesetzlich geregelter und mit Organisation der Arbeitnehmer verbundenen Arbeitsverhältnisse sei zerschlagen worden. Die real existierenden Arbeitsverhältnisse seien heute überwiegend atypisch, zum großen Teil prekär, was vor allem Frauen betreffe. Gleichzeitig sei eine zweite Bezugsgröße der Linken verloren gegangen: Die Möglichkeit nationalstaatlicher Regulierung des Kapitals (auch wenn Nationalstaaten im Krisenfall immer noch ein wirksames Instrument zur Kontrolle der Finanzsysteme darstellten, gerade die Global Players seien auf steuerfinanzierte Interventionen der Nationalstaaten angewiesen).

    Entgegen einigen positiven Ansätzen der Europäischen Union, wie auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit und mit den ersten Ansätzen einer einheitlichen Sozialgesetzgebung, sei die EU ein entscheidender Baustein in der Politik des neoliberalen Umbaus und verkörpere bedeutsame antidemokratische Tendenzen: Die extrem verzögerte Implementierung getroffener Entscheidungen ermögliche z.B. eine Politik der Sachzwänge. Es sei kaum möglich, politischen Widerstand gegen Entscheidungen zu organisieren, die erst nach Jahren umgesetzt werden sollen. Bei der Umsetzung könne man sich dann auf bestehende Vertragsverhältnisse berufen, die politische Korrekturen ausschlössen. Für Frieder Otto Wolf ist dieses Verfahren vor allem mit dem Namen Bangemann verbunden. Es werde begleitet von einer Expertisierung und Juristifizierung der Entscheidungsprozesse, wo in verborgenen Gremien Vertragsverhältnisse ausgehandelt würden, die sich dann den nationalen demokratischen Strukturen als unbeeinflußbar präsentierten. Oft genug nutzten nationale Regierungen den skandalöser Weise immer noch geheim tagenden Ministerrat um Entscheidungen durchzusetzen, die auf nationaler Ebene nicht durchsetzbar wären - eine Politik, die der der "Geheimnisse des Reiches" im 15. und 16. Jahrhundert analog sei. Weshalb die Linke die EU trotz allem nicht links liegen lassen könne ergebe sich zwingend schon daraus, dass ihre Gegner dort hervorragend organisiert seien ­ zu einer Zeit, in der gerade auf demokratisch kontrollierte Regulierung des Kapitalismus abzielende Politik an der europäischen Entscheidungsebene nicht mehr vorbeigehen könne.

    Die im europäischen Parlament vertretenen Linken (wozu Wolf Teile der Grünen und die Fraktion der Vereinigten europäischen Linken-Nordische Grüne Linke zählt) sei durch ihre Zersplitterung und Heterogenität in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt. Die Fraktionsmitglieder definierten sich stark anhand ihrer national-parteipolitischen Herkunft und den dortigen Interessenlagen. Die entscheidende Aufgabe sieht er darin, ohne auf ein -aussichtsloses - Fusionsprojekt oder parteiförmige Neugründungen zurückzugreifen, diese heterogenen politischen Kräfte in ein produktives Verhältnis zueinander zu bringen. Dies könne aber der parlamentarische Raum selbst nicht leisten. Hierzu sei es nötig, unterschiedlichste politische Handlungsformen um konkrete Forderungen zu gruppieren, wie sich dies zum Beispiel in der um Bourdieus Aufrufe entstandenen Bewegung, dem Bündnis für die Einführung der Tobin-Steuer (ATTAC) oder den Europäischen Märschen gegen die Arbeitslosigkeit in Ansätzen abzeichne. Anhand letzteren illustrierte Wolf aber auch die Gefahr einer Zersplitterung, die es dem Neoliberalismus möglich mache, nach der Regel des divide et impera Teilsegmente des Widerstandes einzubinden: Mit ihrer anfänglichen Orientierung auf ein Grundeinkommen seien die Märsche Gefahr gelaufen, für eine sozialverträgliche Form gesellschaftlicher Spaltung instrumentalisiert zu werden. Sie hätten diese erst mit ihrer Umorientierung gegen alle Formen der sozialen Ausgrenzung umschifft.

    Dem mit dieser kurzen Skizze umrissenen Vortrag schloss sich eine trotz der leider geringen Teilnehmerzahl lebhafte Diskussion an, in der unterschiedlichste Themen vom Multilateralen Abkommen über Investitionen und seine Nachfolger, über die Vorreiterrolle der EU für die Kapitaldeckung der Rentenversicherungen bis zu den aus der Differenziertheit der Lebensverhältnisse in den europäischen Ländern resultierenden Schwierigkeiten für eine gemeinsame Politik angesprochen wurden - ein Abend, dem man eine breitere Öffentlichkeit gewünscht hätte und viel Diskussionsstoff für die Zukunft.  
     

 
 
 
          
über uns           
gegenansichten           
demnächst           
kalender