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Angela Schmidt:
"Mich regiert blanke Angst"
Die Realität extremer Gefühle in neuen Formen der Arbeitsorganisation

Vortrag zuerst gehalten auf der Fachtagung "Arbeiten ohne Ende?" der IGMetall am 20./21. September 2000 in Stuttgart

Intensive Ängste, die mich bis in den Schlaf verfolgen und gar nicht mehr los lassen; ein quälendes schlechtes Gewissen, das stärker wird, wenn ich ihm nachgebe; manchmal auch ausgesprochene Hochgefühle, eine Art "Arbeitsekstase": Extreme Gefühle ergreifen Beschäftigte in den neuen Formen der Arbeitsorganisation . Illustriert wird das in Texten Beschäftigter, die bei Aktionen des Betriebsrates der IBM Düsseldorf und in einem IG Metall-Seminar in Bremen entstanden sind. Sie belegen außerordentliche psychomentale Belastungen; ab und an klingt jedoch auch durch, welchen Spaß die Arbeit macht . Hier einige Zitate:

Ich habe noch mehr Überstunden gemacht und konnte trotzdem abends nicht zufrieden nach Hause gehen. Irgend etwas Wichtiges blieb immer liegen.(...) Die Situation gipfelte Mitte des Jahres in einem Nervenzusammenbruch.

Die Situation ist nun beinahe unerträglich geworden. Eine grundsätzliche Entlastung ist jedoch nicht in Sicht. Im Gegenteil steigt der Druck noch dadurch, dass ich inzwischen (notgedrungen) so viele Dinge vernachlässigt habe, dass ich nun Angst haben muss die Kontrolle über meine Projekte zu verlieren: Mich regiert blanke Angst.

Ich wache nachts auf und klebe mir schweißgebadet kleine gelbe Haftzettel an die Stirn, immer noch getreu meinem Glauben an Zeitmanagement ("was einmal auf der To-Do-Liste steht, kann man für den Augenblick aus dem Arbeitsspeicher streichen".)

Mein Chef begegnet mir. Beiläufig schaut er auf die Uhr. Schon habe ich ein schlechtes Gewissen. Gehe ich zu früh? Ich bin doch schon 9 Stunden hier. Unangenehme Situation.

Es ist Freitag abend 20:48, ich bin auch gestresst, aber fühle mich gut, weil ich etwas geschafft habe nach einem 13stündigen Arbeitstag. (...) wenn es Spaß macht, dann gibt es keinen Stress, dann spielt auch die Zeit keine Rolle.

Mal sehen, wann ich dann die Zeit dafür (A.S.: Urlaub) finde, es passt gerade nicht wegen der Arbeit, und außerdem möchte ich erst meinen Tinnitus wieder loswerden.

Diese Zitate sind bemerkenswert: Da lassen sich Menschen stressen bis zum Nervenzusammenbruch, es regiert sie"blanke Angst". Andere pappen sich mitten in der Nacht Haftzettel an die Stirn - aus Sorge Wichtiges zu vergessen. Warum überkommt jemanden, der gerade Überstunden macht, ein schlechtes Gewissen, nur weil der Chef eben mal auf die Uhr schaut? Kann es wirklich sein, dass 13 Stunden Arbeit kein Stress sind? Ab wann wird es dann Stress? Und wenn sich ein Beschäftigter nicht einmal durch ein Tinnitus-Leiden überzeugen lässt, dass er alles Recht auf Urlaub hat, wie denn dann? Von außen betrachtet, von Unbeteiligten gelesen, erscheinen diese Berichte extrem, ja manchmal pathologisch - als wären die Menschen irgendwie defizitär. Außenstehende, die von diesen Erfahrungen hören oder die IBM-Beispieltexte lesen, reagieren oft mit vollkommenem Unverständnis. Sie verstehen die Beiträge als Protokolle bedauerlicher Einzelfälle. Manche halten die Leute für überfordert und empfehlen, sie sollten mit ihren Vorgesetzten sprechen und sich anders einstufen lassen. Wieder andere diagnostizieren Neurosen und raten zu therapeutischer Hilfe. Wohlmeinendere Beobachter entlasten die Mitarbeiter und sehen die Schuld eher bei den Managern; sie stellen fest, die Führungskräfte seien psychologisch nicht gut genug geschult. Ihnen fehle die "Emotionale Intelligenz". Und manchmal wird immerhin zugegeben, dass solche "Exzesse" unter neuen Managementformen zunehmen; dann heißt es jedoch: "Das sind letztlich unerwünschte Nebeneffekte, die man vermeiden kann, wenn man es nur richtig macht. Die neuen Konzepte sind noch zu wenig begriffen und werden stümperhaft umgesetzt." Diese Erklärung dürfte insbesondere bei Unternehmensberatern verbreitet sein, die mit dem Verkauf eben dieser Konzepte Geld verdienen. Zumeist wissen die Beschäftigten selbst nicht, wie und was ihnen da geschieht, und sie zweifeln am eigenen Verstand - wie das folgende Zitat aus einem Beispieltext belegt: Was geht mit mir vor und warum wehre ich mich nicht? (...) Bin ich ein Workaholic geworden? (...) Sind wir etwa von Außerirdischen infiziert? Sind wir Roboter geworden? Androiden? (...) Haben wir ähnliche Symptome? Sind wir krank? Sind wir schizophren?

Diese Selbstzweifel und diese Verunsicherung sind quälend. Doch zu schließen, die betroffenen Mitarbeiter seien deswegen im klinischen Sinne schizophren oder anderweitig psychisch defekt, wäre ein Irrtum. Auch die anderen oben genannten Interpretationen treffen für viele Unternehmen und ganze Branchen nicht den Kern. Einiges deutet darauf hin, dass die Dinge komplizierter sind:


•Es kann sich nicht um Einzelfälle handeln, wenn sich die Hinweise häufen, dass die emotionalen Extreme ein massenhaft verbreitetes Phänomen sind. Das legen die Erfahrungen bei IBM nahe, aber auch die Reaktionen von Beschäftigten aus anderen Betrieben und Industriebereichen. So riefen BMW-Kollegen bei einem Seminar über die IBM-Texte spontan aus: "Das hätte ja einer bei uns schreiben können." Dass nun gerade bei IBM oder bei BMW besonders viele psychisch labile Mitarbeiter beschäftigt sein sollten, erscheint ziemlich absurd. Wenn die zitierten Beispiele aber keine Einzelfälle sind, dann lassen sich die Probleme wohl auch kaum auf individuelle Pathologien zurückführen.
•Dass die Beschäftigten überfordert sind, mag durchaus richtig sein. Doch woran misst sich diese "Überforderung"? Wenn Maßlosigkeit System hat, helfen weder Neueinstufungen noch zusätzliche Qualifikation: Um mit den Begehrlichkeiten der Shareholder, der Kunden und den Anforderungen des Konkurrenzkampfes Schritt zu halten, kann man nie gut genug sein.
•Sollten die Belastungen durch psychologisch zu wenig geschultes, unfähiges Führungspersonal verursacht sein, müssten die Leistungen der betroffenen Einheiten nachlassen. Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein! Gerade der angebliche Mangel an emotionaler Intelligenz der Manager führt zum Beispiel in der IBM zu Spitzenleistungen bei den Beschäftigten. Und eben deswegen sind die extremen Gefühle wohl kaum ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. In ihren Texten erkennen die Beschäftigten glasklar, dass emotionale Überbeanspruchung und gute Leistung kein Widerspruch sind:
•Zusätzlich (…) sehe ich den Druck Umsatz zu machen in einer Zeit, in der dies extrem schwierig ist. Speziell in einigen Bereichen (…) sind die Zahlen ziemlich mies und jeder fühlt sich (aufgrund der Quote oder aus persönlichem Einsatz) dazu gedrängt ALLES MENSCHENMÖGLICHE zu tun, um Umsatz zu machen.
•Seit Ende der 80er Jahre stimmte dieses Verhältnis (A.S.: von Arbeitsdruck und Zufriedenheit) nicht mehr und die Angst ging um. Ab hier begann eine schleichende Ohnmacht gegen die ständige Erhöhung der Workload. Das Gefühl von Wut und Angst schuf eine eigene Art von Arbeitssteigerung. Ich machte Überstunden.
•Einige entwickeln geradezu einen Stolz darauf, dass sie bis an/über die Grenzen der Gesundheitsschädigung arbeiten. So wird im Laufe der Zeit ein Arbeitslevel erreicht, das jeden, der nach vernünftigem Maß zu arbeiten versucht, zum Außenseiter und Versager stempelt.

Wenn sich jeder dazu gedrängt fühlt alles Menschenmögliche zu tun, wenn Wut und Angst zur Arbeitssteigerung führen, wenn Stolz wichtige Motivation für maßloses Arbeiten ist, dann spielen die Gefühle bei den Leistungssteigerungen im neuen System eine ganz zentrale Rolle. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass die extreme Beanspruchung der Gefühle in neuen Formen der Arbeitsorganisation nicht zufällig, kein unerwünschter Nebeneffekt, keine individuelle Pathologie ist. Sie ist vielmehr systematischer und beabsichtigter Effekt neuer betrieblicher Herrschafts-formen, die die unternehmerische Verantwortung an die Beschäftigten weitergeben. Die Mitarbeiter werden zu "Unternehmern im Unternehmen". Die extremen Gefühlszustände sind dabei nichts Nebensächliches, Äußerliches, sondern sie sind ein wesentliches Mittel, um die Beschäftigten in ihrem unternehmerischen Tun anzutreiben. Die extreme emotionale Dynamik ist in gewissem Sinne das, worum es bei den neuen Formen geht; auf jeden Fall ist sie etwas, ohne das es nicht geht.

Vom Unverständnis der Fachleute
  Die intensiven Gefühlszustände sind an sich ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Ebenfalls ergründet werden muss, warum Beobachter - darunter sind sogar Fachleute wie Psychologen, Mediziner, Sozialwissenschaftler, Unternehmens-berater - die Situation der Beschäftigten häufig so wenig verstehen. Es gilt zu erfassen, warum sie statt dessen deren psychische Gesundheit oder ihre Professionalität in Frage stellen, sie damit ein zweites Mal unter Druck setzen, ganz unnötig belasten und sie auch nicht wirklich Ernst nehmen. Beschäftigte, die unter den neuen Bedingungen ohne Ende arbeiten, versuchen manchmal verzweifelt sich und anderen ihre Situation zu erklären. Denn Lebenspartner, Familienangehörige, Freunde wollen wissen, warum sie keine Zeit mehr haben, sich so abarbeiten, nur noch aufgedreht, gereizt oder bedrückt sind. Sind die Leute dann schon krank, fragen Ärzte oder Psychologen, warum sich die Menschen den krankmachenden Arbeitsbedingungen nicht entziehen. Gelegentlich kommt es im Betrieb zu Auseinandersetzungen, wenn Betriebsräte die Beschäftigten drängen sich doch an die Arbeitszeitgesetze zu halten. Die Beschäftigten bemühen sich dann zu erläutern, warum sie unbedingt weiterarbeiten möchten und müssen. Doch was auch immer sie erzählen, die Beschäftigten werden typischerweise von den Außenstehenden kaum verstanden. Statt dessen gibt es mitleidige Blicke und gutgemeinte Ratschläge: Du musst Dich endlich abgrenzen! Du musst endlich Deinen Standpunkt behaupten! Sag' doch mal Nein! Vom Arzt: Sie müssen besser auf sich achten, treten Sie etwas langsamer! Vom Betriebsrat: Du musst Deine Rechte endlich einfordern! Dabei geraten diese Menschen nun ein zweites Mal unter Druck: Es geht ihnen sowieso schon schlecht, sie sind von etwas ergriffen, das sie kaum verstehen. Und nun deuten die anderen auch noch an oder sagen ausdrücklich, dass sie selbst daran Schuld sind. Wer dann mehrere solche Gespräche geführt hat, hört auf seine Probleme zu thematisieren. Auf Fragen nach seinem Befinden sagt er lieber: "Danke, mir geht es gut. Es läuft alles prima". Die angeblichen Workaholics nehmen ihre Unterlagen mit nach Hause und arbeiten dort weiter, um nicht mehr in Konflikt mit den Betriebsräten zu geraten. Das völlige Unverständnis der Umwelt bringt die Leute so zum Verstummen, macht sie sprachlos, hilflos oder dann tatsächlich beinahe wahnsinnig - und es macht die eigentlichen Probleme unsichtbar. Es ist ja alles wieder in Ordnung - so sieht es dann an der Oberfläche aus.
Wieso verstehen die Außenstehenden die Betroffenen so wenig? Wieso halten die Beschäftigten unterdessen verzweifelt daran fest, dass sie doch nur auf äußere Notwendigkeiten reagieren, die in der Sache liegen, und dass sie gar nicht anders können, eben weil sie bei Verstand sind? Offensichtlich erfahren die Beschäftigten in der Situation etwas am eigenen Leibe, was von außen kaum wahrnehmbar ist: Ihr Erleben und ihre Gefühle erscheinen für andere nicht in der Realität begründet. Deswegen wohl wirken ihre Reaktionen unangemessen und sie selbst werden als psychisch abnormal angesehen. Das ist kein Zufall, sondern ein Wesenszug der neuen Arbeitsorganisation: Von außen ist gar nicht so richtig zu verstehen, warum sie die Menschen so belastet und warum sie sie so verstrickt, dass sich kaum einer entziehen kann. Was die Beschäftigten bewegt, scheint vollkommen irreal und flüchtig - zumindest, wenn man es mit den Begriffen der alten Arbeitsorganisation, des Command and Control, zu verstehen versucht.

Welche Folgen die neue Arbeitsorganisation für mich hat
Mit der neuen Arbeitsorganisation wird das Command and Control genannte System, das auf Weisungen und Strafandrohungen basierte, durch eine neue Art der Steuerung abgelöst: Den Beschäftigten wird unternehmerische Verantwortung übertragen. Sie müssen selbstständig unternehmerisch denken und agieren. Gesteuert werden sie dabei durch indirekte Maßnahmen: Da werden z.B. unternehmensinterne Konkurrenzverhältnisse erzeugt; Einheiten werden so aufgebaut, dass man sie intern und extern "benchmarken" kann und bei negativem Ergebnis auch ersetzen; gezieltes Investment oder Des-Investment fördert oder hemmt Bereiche; die Existenz von Einheiten wird an hohe Gewinnvorgaben gekoppelt. Es geht dabei darum, die Naturwüchsigkeit des Gesamtsystems, das, was man abstrahierend "Markt" nennt, in die Unternehmen zu bringen und dadurch die betriebliche Planwirtschaft zu ersetzen. Dies alles ist so konzipiert, dass die Mitarbeiter maximal unter Druck geraten. Dieses neue System hat für mein Verhältnis zu mir selbst und zu meiner Arbeit und für die Wirksamkeit der gesetzlichen und tariflichen Schutzbestimmungen schwerwiegende Konsequenzen:

• Ich kann nicht mehr genügen: Gute fachliche Arbeit reicht nicht mehr aus. Erst der Markterfolg meines Produktes entscheidet über meinen Erfolg und damit über meine Zukunft. Und der Markterfolg ergibt sich aus der Konkurrenzsituation. Er ist ein relativer Erfolg - stets muss ich billiger, schneller und besser als die anderen sein. Und diese wiederum müssen mich übertrumpfen. Das ist die Grundlage für einen maßlosen Prozess. Maßlos sind ebenso die Forderungen der Investoren und Shareholder: Wenn dieses Jahre 15 Prozent Gewinn erwirtschaftet wird, warum dann nicht nächstes Jahr 16 oder 17 und in zwei Jahren 20 Prozent. Diese Maßlosigkeit der Prozesse macht vielen Menschen ein schlechtes Gewissen und Angst.
• Ich werde zur "Selbst GmbH": Wenn meiner Einheit ständig das Des-Investment droht, wenn alle internen Verhältnisse marktförmig gestaltet werden, wenn ich mit anderen um Ressourcen konkurrieren muss, dann muss ich mich ständig fit halten und neu positionieren. Ich muss agieren wie ein kleines Unternehmen. Ich konkurriere dann mit anderen meiner Einheit um Projekte, um professionelles Ansehen, um die Teilnahme am Informationsfluss. Ich muss mich selbst vermarkten. Ein Misserfolg führt zum Verlust meines Marktwertes. Die "Selbst GmbH" muss sorgsam darauf achten geschäftsfähig zu bleiben. Auch das setzt viele unter enormen Druck.
• Ich sehe mich selbst als "Ressource Ich": Die ersten beiden Punkte bezogen sich stark auf mein Verhältnis zu anderen, mit denen ich in Konkurrenz stehe. Dieser Punkt nun berührt primär mein Verhältnis zu mir selbst. Wenn ich unternehmerische Funktionen übernehme und mich als ŒSelbst GmbH¹ vermarkte, beginne ich mich selbst als Ressource zu managen. Ich sehe mein eigenes Tun zunehmend unter Kosten-Nutzen-Aspekten; äußere Kriterien bestimmen meinen Blick auf mich selbst: Alle kleinen Unzulänglichkeiten, Unpässlichkeiten, persönlichen Ansprüche erscheinen mir plötzlich nur noch als Reibungsverluste, die meinen Erfolg gefährden. Plötzlich ist ineffizient, was mich menschlich macht.
• Sachliche Verstrickungen bestimmen mein Tun: Es sind nicht mehr Vorgesetzte, es sind nicht mehr allgemeine Weisungen und Regelungen, die mein Tun lenken, sondern die Sachlogik der Prozesse. Ich betrachte die Sachlage, ich weiß, was unternehmerisch nötig ist, und die geforderte Vorgehensweise ergibt sich wie von selbst: Das Projekt kann eben nur akquiriert werden, wenn das Angebot günstig ist; das Produkt wird sich nur am Markt durchsetzen, wenn der Leistungsumfang über dem der Konkurrenz liegt; wenn der Termin nicht eingehalten wird - koste es, was es wolle, - gibt es den Folgeauftrag nicht; und wenn nicht genügend Aufträge rein kommen, wird der Umsatz nicht erreicht. Auf einmal kann ich mich nicht mehr entziehen: Abgrenzen kann ich mich gegen Personen, aber nicht gegen Konsequenzen, die in der Sache liegen und aus meinen Handlungen oder Versäumnissen wie von selbst resultieren.
• Regelungen zu meinem Schutz helfen mir nicht mehr, wie sie es einmal taten: Arbeitszeitgesetze, tarifliche Regelungen, Schutzbestimmungen sind natürlich weiter gültig, aber sie sind im Neuen seltsam belanglos. Da die Beschäftigten als unternehmerisch Tätige ihre Arbeit selbst organisieren und einteilen, wird auch die Beachtung der Regelungen in ihre Hand gelegt. Gleichzeitig sind Ergebnisse gefordert, die diesen Regelungen zuwiderlaufen: Nicht aus willkürlicher Grausamkeit, sondern mit dem Verweis auf die faktische und praktische Realität. Und da nun niemand die Mehrarbeit anordnet oder das Unterlaufen der Bestimmungen, sie quasi von selbst geleistet werden, sind sie auch das Problem des Beschäftigten. Schließlich erscheinen die Regelungen, die doch zum Schutz der Beschäftigen gedacht waren, wie Hindernisse auf dem Weg zum unternehmerischen Erfolg.
• Ich kann wirklich wachsen: So paradox es nun klingen mag, die neue unternehmerische Verantwortung bringt auch neue Freiheiten und ermöglicht mir ein wirkliches persönliches Wachstum: Ich werde nicht ständig extern überwacht; ich kann kommen und gehen, wann ich will; ich kann arbeiten, wie ich will; ich kann meine Umwelt selbstständig analysieren, interpretieren und selbstständig handeln; ich muss mich nicht ständig bevormunden lassen: Was zählt, sind nicht mein Rang, meine Betriebszugehörigkeit oder mein Alter, sondern die Ergebnisse. Dieser echte Freiheitsgewinn und das persönliche Wachstum spielen eine wichtige Rolle beim Gefühl des "High", das einige spüren. Das Erleben der Selbständigkeit, das Gefühl selbst Dinge zu tun, die früher Managern vorbehalten waren, führt trotz größerem Druck oft zu höherer Zufriedenheit und manchmal zu echten Hochgefühlen. Mein notwendiges Ungenügen, meine Perspektive auf mich als "Selbst GmbH" und als "Ressource Ich", die sachlichen Verstrickungen, sogar die neue Freiheit setzen mich unter extremen Druck. Dieser Druck zeigt sich dann in den extremen Gefühlen. Das sind nun aber nicht getrennte Geschehnisse, die in zeitlicher Sequenz - säuberlich eins nach dem anderen - folgen: Zuerst wird die neue Herrschaftsform installiert; sie führt dazu, dass ich mich auf bestimmte Weise sehe und mit den sachlichen Gegebenheiten ins Verhältnis setze; dadurch dann der Druck; nun erst die resultierenden Gefühle. In einem gewissen Sinn ist es gerade andersherum: ich fühle Angst, schlechtes Gewissen, Begeisterung: genau in diesem Fühlen liegt der Druck möglichst gut, effizient, konkurrenzfähig zu werden. Er veranlasst mich zu handeln und mit anderen in Konkurrenz zu treten. Ich erzeuge dann wiederum das, was meine Gefühle erzeugt. Der ganze Mechanismus ist ein geradezu unentwirrbares Ineinander von Fühlen, Denken und Handeln. Meine Gefühle motivieren mein Denken und begründen mein Handeln, mein Handeln und das Handeln aller anderer, die denselben Gefühlen ausgesetzt sind, bringt wiederum die extremen Gefühle hervor. Das ist zirkulär und hat eine Tendenz zur Selbstverstärkung. Die Vorstellung man könne Mitarbeiter mit neuen Prinzipien steuern und zu Höchstleistungen bringen, aber die emotionalen Exzesse dabei vermeiden, ist also vollkommen irrig.
Diese Mechanismen sind von außen schwer zu erkennen und zu verstehen. Das liegt wiederum in der neuen Herrschaftsform begründet. Insbesondere drei Wesenheiten des Neuen machen es so schwer erfassbar:
• Seine Alltäglichkeit: Das Neue wird ja nicht als spektakuläre Grausamkeit implementiert. Es ist nicht so, dass plötzlich ein Manager kommt und sagt: Ihr sollt ab sofort alle bis zur Erschöpfung arbeiten, sollt keine freien Wochenenden mehr haben, sollt alle Maßnahmen des Gesundheitsschutzes missachten, sonst schmeißen wir Euch alle raus. Die sichtbaren Strukturen und offiziellen Regelungen ändern sich oft gar nicht wesentlich. Was wirklich wichtig ist, vollzieht sich in der tagtäglichen Konfrontation der Beschäftigten mit den faktischen und praktischen Problemen ihres neuen Unternehmertums, in der sachlichen Verstrickung; es geschieht fast unsichtbar im Denken und in jeder kleinen Entscheidung und Handlung der Beschäftigten: Jetzt eben doch noch die Unterlagen fertig zu stellen; am Abend doch noch schnell zum Kunden zu fahren; das Angebot doch noch mal zu überarbeiten und ein paar Prozent billiger zu machen; den neuen Software-Release nachts noch einmal durchzutesten, ehe ich ihn freigebe. Es sind solche an sich unspektakulären Alltäglichkeiten, die sich summieren.
• Seine Legitimität: Jedes der Momente des neuen Unternehmertums erscheint vollkommen legitim. Ist es denn nicht vollkommen legitim zu fordern, dass die Beschäftigten ihre Zeit möglichst effizient einsetzen? Dass sie Kosten senken und die Qualität steigern? Dass sie selbst die Verantwortung für ihr Tun übernehmen? Dass sie sich selbst um ihren Marktwert und ihre berufliche Zukunft kümmern? Dass es unternehmerische Konsequenzen hat, wenn ihre Einheit nicht die verlangten Ergebnisse bringt? Dass sie keine Ressourcen, auch nicht ihre eigenen Kräfte, unnütz vergeuden? Sind Unternehmen oder öffentliche Betriebe und Verwaltungen etwa karitative Veranstaltungen? Haben die Kunden kein Anrecht auf Effizienz und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, die Investoren auf Gewinne? Die Welt ist, wie sie ist, und die Beschäftigten müssen sich dem stellen. Was ist daran illegitim? Wer wollte da von Willkür und Grausamkeit sprechen? Diese scheinbare Legitimität liegt in der Naturwüchsigkeit der Prozesse begründet: Wenn ich akzeptiere, dass die Welt ist, wie sie ist, ergibt sich alles weitere notwendig.
• Seine individuelle Wirksamkeit: Das Wesentliche am Neuen ist gerade, dass es keine allgemeinen Regeln und Weisungen mehr gibt. Die Beschäftigten sehen sich vor unternehmerische Probleme gestellt, und jeder ist gefordert, seine besonderen Fähigkeiten und individuellen Stärken einzusetzen. Damit kommen aber auch die individuellen Schwächen zum Tragen. Stärken und Schwächen sind zwei Seiten einer Medaille. Sich in Kunden einfühlen zu können, ist ein großer Vorteil für einen Dienstleister und nützt dem Unternehmen; sich nicht mehr gegen die Ansprüche der Kunden abgrenzen zu können, erscheint aber als persönliche Schwäche. Sehr flexibel zu sein und keine starren Vorgaben zu brauchen, ist sehr von Nutzen, wenn sich die unternehmerischen Gegebenheiten schnell ändern; wenn derselbe Mitarbeiter gar nicht mehr zur Ruhe kommt und alle Fixpunkte verliert, ist das sein persönliches Problem: Er ist halt eine hysterische Persönlichkeit. Plötzlich sieht es aus, als litten die Beschäftigten unter individuellen Schwierigkeiten, ja Pathologien. Das Allgemeine am neuen System verschwindet aus dem Blick. Auch die individuelle Wirkungsweise ist ein Effekt der Naturwüchsigkeit der Prozesse: Jeder definiert selbst den eigenen Fähigkeiten und der Aufgabe entsprechend seinen persönlichen Beitrag.

Diese drei Punkte - die Alltäglichkeit, die scheinbare Legitimität, die individuelle Wirkungsweise erklären nicht nur die Unsichtbarkeit der realen Grundlagen der extremen Gefühle, sie sind auch der Grund, dass sich die Beschäftigten so schwer entziehen können.

Gegenmacht entwickeln
Tag für Tag und ganz individuell sind es die Beschäftigten selbst, die die neuen Formen der Arbeitsorganisation vollziehen. Wollen sie die geforderten - scheinbar so legitimen - Ergebnisse bringen, können sie gar nicht anders. Weil das neue System nicht auf den Weisungen anderer beruht, helfen die überkommenen Politikformen und Maßnahmen nicht mehr ausreichend. Waren sie doch darauf abgestimmt Beschäftigte vor anderen zu schützen. Im Neuen müsste man die Beschäftigten vor sich selbst schützen - doch das ist unmöglich. Man kann keinen anderen vor sich selbst schützen. Betriebsräte, die das versuchen, geraten in Konfrontation mit den Leuten, denen sie eigentlich Gutes tun wollen, nicht jedoch mit den Unternehmen.
Wo können Gewerkschaften, Betriebsräte und Beschäftigte selbst dann ansetzen? Voraussetzung ist ein Begreifen der neuen Formen und ihrer Auswirkungen. Die "Experten" müssen zusammen mit den Betroffenen versuchen den neuen Mechanismen auf den Grund zu gehen. Ein Anfang ist gemacht, wenn Außenstehende ihr Unverständnis in der Diskussion mit den Beschäftigten thematisieren und problematisieren und wenn sie ihrer eigenen Betroffenheit durch die neuen Formen nachgehen. Können sie tatsächlich unberührt bleiben, wenn sich ihre Klientel in neue Mechanismen verstrickt?
Notwendig ist ein Innehalten. Die Dynamik der Prozesse muss unterbrochen werden. Funktionäre, Betriebsräte und Beschäftigten brauchen einen Raum, um sich bewusst mit dem Neuen auseinander zu setzen: Woher kommt der Druck? Was geschieht mit meinen Gefühlen? Wie legitim sind die Anforderungen wirklich, die mir das Letzte abverlangen? Bin ich nur Opfer oder bin ich auch Ursache der extremen Dynamik? Welche Redeweisen, Bilder, Verhaltensweisen verstärken den enormen Konkurrenzdruck und zwingen mich mich ständig selbst zu vermarkten und mich marktschreierisch großzutun? Dieses Bewusstmachen des eigenen Denkens und Verhaltens braucht einen Raum, der nur gemeinsam und mit Hilfe des Betriebsrates und der Gewerkschaften geschaffen werden kann.
Schließlich geht es darum das Wirken der neuen Managementformen in jeder kleinen Einzeltätigkeit und Entscheidung zu erkennen. Nur wenn ich verstehe, wann und wie ich selbst die Weichen so stelle, dass ich und die anderen unter Druck geraten, kann ich Alternativen entwickeln.
Die Aufgabe von Betriebsräten und Gewerkschaften ist es den inneren Konflikt in den Mitarbeitern (ich bin zugleich abhängig Beschäftigter und unternehmerisch Tätiger) wieder in den öffentlichen Raum zu bringen. Sie müssen aufzeigen, wie die Unternehmen die Bedingungen herstellen, auf die die Mitarbeiter zu ihrem eigenen Schaden reagieren. Die Unternehmensseite muss unter Druck geraten, nicht der Beschäftigte.

Erfahrungen bei der IBM
Mit geeigneten Formen der Gegenmacht wird bei der IBM seit mehr als drei Jahren experimentiert. Wiederholte Aktionsmonate sollen Sprachlosigkeit und Vereinzelung durchbrechen und das Systematische an neuen betrieblichen Problemen aufzeigen. Mit dem bundesweiten "Monat der Besinnung" machte der IBM-Betriebsrat 1997 einen Anfang. Auf mehreren Diskussionsveranstaltung ging es um die Funktionsweise und die Folgen der neuen Mechanismen. Fortgeführt wurde dies im November 1998 mit dem Slogan: "Meine Zeit ist mein Leben".
Ebenfalls 1997 begann der BR am Standort Düsseldorf anonymisierte Erfahrungsberichte der Beschäftigten als E-Mail an die Kollegen zu senden. Betroffene schilderten ihre Erlebnisse, berichteten vom Krankmachenden der Situation und versuchten selbst eine Analyse der verwirrenden betrieblichen Realität. Die Texte endeten mit Fragen an alle: "Kennen Sie diese Situation? Wie gehen Sie damit um? Wie helfen Sie sich? Welche Änderung der Rahmenbedingungen wäre hilfreich?" In (ebenfalls anonymisierten) Antwort-Noten diskutierten die Kollegen daraufhin die allgemeine Situation, brachten ihre persönlichen Erfahrungen ein und gaben Ratschläge. Bislang wurde nur etwa eine Handvoll Input-Texte zur E-Mail-Diskussion eingesetzt, an die 30 Diskussionsbeiträge liegen dazu vor. Das erscheint nicht spektakulär - und doch geschah damit etwas Unerhörtes: In einer Umgebung, die den Begriff "Problem" durch das Wort "Challenge" (Herausforderung) ersetzt hat, in der harte Professionals alles im Griff haben, wurde zum ersten Mal öffentlich über Schwierigkeiten, Ängste, Versagen diskutiert, ohne diese Erlebnisse zu pathologisieren und zu entwerten.
Die Erfahrungsberichte und die E-Mail-Methode waren Gegenstand zweier Workshops, die im Juni 1999 bei der IG Metall München und im März 2000 bei der IG Metall Bremen stattfanden. Beim zweiten Workshop entstanden weitere Berichte, die im Herbst 2000 veröffentlicht wurden . Innehalten, die unbewusste Dynamik unterbrechen und Bewusstsein schaffen, die eigene Befindlichkeit ernst nehmen und ihre allgemeinen Aspekte erkennen, das ist das Ziel der Diskussionen des Betriebsrates mit den Beschäftigten, im betrieblichen Alltag, bei den Veranstaltungen in den Aktionsmonaten und in den E-Mail-Texten. Letztlich geht es nicht darum die neuen Formen zu verhindern, die auch neue Freiheiten ermöglichen und die individuelle Entwicklung befördern; es gibt kein Zurück zum alten Command-and-Control mit seiner ständigen Kontrolle und Gängelung. Stattdessen gilt es die neuen Freiheiten aktiv zu ergreifen und für die Zwecke der Beschäftigten zu nutzen. Voraussetzung ist, dass der Betriebsrat einen Raum geschaffen hat, in dem Austausch und Erkenntnisgewinn stattfinden können, dass er die Beschäftigten Ernst nimmt und nun nicht anstelle des alten Kommandosystems erneut bevormundet.

Literatur:
Glißmann, Wilfried / Peters, Klaus (1997): Business Reengineering, Culture Change - Die neue Organisation der Arbeit und die Frage der Solidarität. In: Hensche, Detlef / van Haaren, Kurt (Hg.): Arbeiten im Multimedia Zeitalter. Hamburg (VSA) Seite 187 - 196.

Glißmann, Wilfried (1999a): Betriebliche Interessenvertretung und Neue Selbständigkeit in der Arbeit. In: Werner Fricke (Hrsg): 1999/2000. Jahrbuch für Arbeit und Technik. Was die Gesellschaft bewegt. Bonn (Verlag Dietz) Seite 54 - 69.

Glißmann, Wilfried (1999b): Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und Mechanismen sozialer Ausgrenzung. In: Sebastian Herkommer (Hrsg): Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg (VSA) Seite 150 ­ 170.

Glißmann, Wilfried (2000): Die neue Selbständigkeit in der Arbeit, Ökonomik der Maßlosigkeit und die Frage der Gesundheit. In: Scheuch, Klaus u.a. (Hg): Arbeitsschutzforschung. Diskussionen am Ende des 20. Jahrhunderts. Technische Universität Dresden (ISBN 3-86005-245-4) Seite 120 - 138.

Glißmann, Wilfried / Schmidt, Angela (2000). Mit Haut und Haaren. Der Zugriff auf das ganze Individuum. Sonderheft der "denkanstösse - IG Metaller in der IBM". Das Heft kann angefordert werden unter Tel.: 069-6693-2800.

IG Metall Verwaltungsstelle Bremen (2000): Arbeiten ohne Ende? Meine Zeit ist mein Leben! Problemlagen und Handlungsansätze für Betriebsräte.

Peters, Klaus (1997): Die neue Autonomie in der Arbeit. Hgg. vom DGB Bundesvorstand, Informationen zur Angestelltenpolitik 5/97. Wiederabgedruckt in: Kaiser, Erwin u.a. (1999): Auf zu neuen Ufern. Gewerkschaftliche Organisationsmodelle in Österreich und Europa. Wien (Verlag des ÖGB) Seite 41 - 62.

Peters, Klaus / Siemens, Stephan / Glißmann, Wilfried (1999): Meine Zeit ist mein Leben. Neue betriebspolitische Erfahrungen zur Arbeitszeit. Dieses Sonderheft der "denkanstösse ­ IG Metaller in der IBM" von Februar 1999 kann bei der IG Metall angefordert werden. Tel: 069-6693-2800.

 
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